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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
Autoren: Marina Lewycka
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gekommen.«
    Drachensee. Nichts als ein schamloser schwarzer Punkt |342| auf der Landkarte, von dem rot eingezeichnete Straßen wegführen wie von jedem beliebigen Ort.
    »Vera hat etwas über einen Strafblock dort erzählt   …«
    »Ah, ein unglückseliges Ereignis war das. Und alles nur wegen Zigaretten. Ich habe dir schon erzählt, dass ich glaube, ich
     habe mein Leben ein paar Zigaretten zu verdanken, nicht? Aber was ich dir noch nicht erzählt habe, ist, dass ich wegen Zigaretten
     auch beinahe mein Leben verloren hätte. Wegen Veras Abenteuer mit Zigaretten. Nur gut, dass es genau zu diesem Zeitpunkt damals
     mit dem Krieg vorbei war. Die Briten kamen gerade noch rechtzeitig, um uns aus dem Strafblock zu befreien. Wenn sie nicht
     gekommen wären, hätten wir das Ganze sicher nicht überlebt.«
    »Warum? Was war denn? Und wie lange   …?«
    Eine Weile hustet er vor sich hin, ohne mich anzusehen.
    »Ein Glück war auch«, sagt er dann, »dass wir bei der Befreiung in der britischen Zone waren. Und auch, dass Ludmilla in Novaja
     Aleksandria zur Welt gekommen ist.«
    »Wieso? Wieso war das ein Glück?«
    »Weil Galizien früher zu Polen gehörte und die Polen im Westen bleiben durften. Das war eine Vereinbarung zwischen Churchill
     und Stalin. Polen konnten in England bleiben, Ukrainer wurden zurückgeschickt. Die meisten kamen nach Sibirien und verschwanden
     für immer. Zum Glück hatte Ludmilla noch ihre Geburtsurkunde, auf der stand, dass sie im früheren Polen geboren worden war.
     Und ich hatte noch deutsche Arbeitspapiere. Darauf stand, dass ich aus Dashew kam. Die Deutschen hatten es aus dem Kyrillischen
     ins lateinische Alphabet transkribiert. Dashew oder Daszewo – klingt ja ganz ähnlich, aber Daszewo ist in Polen und Dashev
     in der Ukraine. Zum Glück hat der Einwanderungsbeamte nicht näher nachgefragt. Haha. So viel Glück in so kurzer Zeit hatten
     wir – und das hat fürs ganze Leben gereicht.«
    |343| Im trüben Licht der Vierzig-Watt-Birne wirken die Linien und Schatten auf seinen faltigen Wangen wie tiefe Narben. Wie alt
     er aussieht. Als ich klein war, wollte ich meinen Vater als Helden sehen. Ich schämte mich, dass er in diesen Friedhof desertiert
     und dass er nach Deutschland geflohen war. Meine Mutter wünschte ich mir als romantische Heldin, und die Geschichte der beiden
     sollte von Tapferkeit und Liebe handeln. Jetzt als Erwachsene begreife ich, dass sie keine Helden waren. Sie haben überlebt,
     nicht mehr und nicht weniger.
    »Weißt du, Nadeshda, überleben heißt gewinnen.«
    Er blinzelt mir fröhlich zu, und die Falten-Narben über seinem Mund und um seine Augen werden noch etwas tiefer.
     
    Als Vater zu Bett gegangen ist, rufe ich Vera an. Es ist schon spät und sie ist müde, aber ich muss jetzt einfach über all
     das sprechen. Ich fange mit dem Unverfänglichen an.
    »Das Baby ist niedlich. Es ist ein Mädchen. Sie haben sie Margaritka genannt nach Mrs.   Thatcher.«
    »Hast du auch herausgefunden, wer der Vater ist?«
    »Dubov.«
    »Aber er kann doch nicht   …«
    »Nein, der biologische Vater kann er nicht sein. Aber in allem, worauf es ankommt, ist er der Vater.«
    »Und du hast also nicht erfahren, wer der richtige Vater ist?«
    »Dubov
ist
der richtige Vater.«
    »Wirklich, Nadia. Es ist hoffnungslos mit dir.«
    Ich weiß sehr wohl, was sie meint, aber seit ich gesehen habe, wie Dubov das Baby mit dem Fläschchen fütterte, ist mein Interesse
     an der Identität des Erzeugers erloschen. Stattdessen erzähle ich Vera von den rosa Babyjäckchen, von Valentinas Elastik-Steghosen
     und unserem letzten gemeinsamen Fertiggerichte-Abendessen. Ich beschreibe detailliert |344| , wie der Gasherd für gebildete Leute auf den Dachgepäckträger gehievt wurde und wie alle Umstehenden jubelten. Und ich verrate
     ihr das Geheimnis von Vaters siebzehntem Patent.
    »Also wirklich!«, wirft Vera ab und zu dazwischen, und während ich weiterrede, frage ich mich, ob ich es wagen kann, sie auf
     den Strafblock anzusprechen.
    »Ich kann noch immer nicht glauben, dass das Baby tatsächlich dermaßen niedlich ist. Weißt du, ich war mir eigentlich sicher,
     dass ich es hassen würde.« (Ich hatte mir vorgestellt, sobald ich auch nur einen Blick in das Bettchen werfen würde, würde
     ich wissen, wer sein Vater ist – ich würde ihm seine Herkunft vom Gesicht ablesen können   …) »Ich dachte, es ist bestimmt eine Miniaturausgabe von Valentina, eine Schlampe in Windeln eben –
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