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Kurschattenerbe

Kurschattenerbe

Titel: Kurschattenerbe
Autoren: Sigrid Neureiter
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ausgeführt. Sie zeigte einen Mann mit wallender Haarpracht, so wie Oswald sie auf dem Porträt einer seiner Liederhandschriften trug. Ein Auge war geschlossen, auch das ein typisches Merkmal des Sängers. Das Ungewöhnliche an der Zeichnung war das Fass. Der Mann, den Sascha gezeichnet hatte, umklammerte ganz eindeutig ein Fass, das an der Wasseroberfläche trieb.
    Jenny starrte das Bild mit offenem Mund an. Hatte die Kleine allein aufgrund der Verszeilen, in denen vom Schiffbruch die Rede war, diese Zeichnung angefertigt? Wenn das der Fall war, musste sie eine ordentliche Portion Talent und vor allem eine große Vorstellungskraft besitzen. Jenny schien das höchst unwahrscheinlich. Aber woher sonst sollte sie das Motiv kennen? Jenny wusste von Arthur, dass Saschas Mutter vor ihrem Aufstieg zur schwerreichen Geschäftsfrau ein Germanistikstudium absolviert hatte. So hatten sie und der Professor einander kennengelernt. Hatte Kateryna ihrer Tochter von Oswalds Abenteuern erzählt?
    Jenny nahm sich vor, Sascha in der Pause danach zu fragen. In dem Augenblick wandte sich das Mädchen ihr zu. Verschwörerisch legte es den ausgestreckten Zeigefinger auf ihre Lippen. Jenny verstand. Sie würde nichts verraten. Schließlich war es kein Vergehen, während eines Konzerts zu zeichnen. Sie wunderte sich ohnehin darüber, was eine 13-Jährige an mittelalterlicher Musik fand. Sollte die nicht eher eine Boyband anhimmeln?
    Als Jenny wieder auf den Platz neben sich sah, war er leer. Sascha schien wie vom Erdboden verschluckt. Im selben Moment setzte Applaus ein. Der erste Teil des Konzerts war zu Ende. In Gedanken ganz bei Saschas rätselhaftem Verhalten ließ Jenny sich vom Sog der Zuschauer ins Freie ziehen.
    *
    Acht Augenpaare blickten starr in die Kamera. »Lächeln, bitte. Danke, mir ham’s.« Der Fotograf schaute auf die Digitalanzeige seines Fotoapparates, ballte er die Hand zur Faust und streckte den Daumen nach oben. Alles o. k. Die Gruppe löste sich sichtlich erleichtert auf.
    Beppo Pircher, Reporter der lokalen Tageszeitung ›Der Meraner‹, sah auf sein Display. Im Geiste ging er die Namen der abgelichteten Personen durch und notierte sie auf einem Zettel. In der Mitte stand – groß, wasserstoffblond und mit tollen Kurven ausgestattet – Kateryna Maximowa. Sie lächelte verführerisch und war zweifellos die Fotogenste von allen. Den Arm hatte sie um ein Mädchen gelegt, ihre Tochter Sascha. Deren missmutiger Gesichtsausdruck legte den Verdacht nahe, dass ihr die Sache gar nicht behagte. Und was für ein scheußliches T-Shirt sie trug. Wenigstens ihr Basecap hatte sie auf die dringende Bitte ihrer Mutter hin abgenommen. Rechts neben Kateryna hatte sich Vizequästorin Franca Bertagnoll zu ihren vollen ein Meter fünfundsechzig aufgerichtet und blickte grimmig in die Kamera. Daneben Maurice Jungmann. Beppo fiel auf, dass der Mann nur wenige Zentimeter mehr maß als die Vizequästorin. Doch seine schlanke, gepflegte Erscheinung machte den für einen Mann eher kleinen Wuchs wett. Links neben Kateryna waren Tony Perathoner – ihr Manager und Begleiter, wie sie ihn vorgestellt hatte – und Arthur Kammelbach zu sehen. Der Professor überragte die anderen um mehr als eine Haupteslänge. Neben ihm stand Martha Tappeiner, die Buschenschank-Wirtin, die in ihrer groben Kutte verloren wirkte. Beppo hatte sie und ihre Tochter Kristl gebeten, sich zwecks Lokalkolorits zu der Gruppe zu gesellen. Schade bloß, dass die Kleine so gar nichts gleichsah. Da nutzte auch die Tracht nichts, in die man sie gesteckt hatte.
    Wahrscheinlich würde er das Bild ohnehin nicht ins Blatt bringen. Denn der Platz, der ihm für den Bericht über die Soirée zur Verfügung stand, war knapp bemessen. Ein Foto der Musiker musste auf jeden Fall dabei sein. Ein zweites würde er vermutlich nicht unterbringen. Sein Chefredakteur bestand jedoch auf möglichst vielen unterschiedlichen Motiven. Ein gestelltes Gruppenfoto mit den wichtigsten Gästen musste dabei sein. Benno wusste nie, was sein Chef aussuchen würde, deshalb schoss er lieber mehr.
    Vielleicht schafften es seine Aufnahmen auf die Website der Zeitung.
    Es wäre jedenfalls schade um die schönen Motive. Er hatte das Ensemble fotografiert, die lokale Prominenz und sogar das von Martha Tappeiner und ihren Helferinnen liebevoll aufgebaute Buffet. Zarte, in Blätterteig gehüllte Schweinelendchen hatte es gegeben, Reis aus den Alpen, der appetitlich in kleinen Schälchen serviert wurde, und
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