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Kurschattenerbe

Kurschattenerbe

Titel: Kurschattenerbe
Autoren: Sigrid Neureiter
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war sie durch ihre außerordentliche Musikalität aufgefallen und hatte Flöten- und Klavierunterricht bekommen. Trotzdem wäre sie lieber Balletttänzerin geworden. Violas großzügige Eltern hatten sie in dieser Hinsicht gefördert und mit ihren langen schlanken Gliedern war sie geradezu prädestiniert für eine Tanzkarriere. Das dachten auch ihre Trainer – bis sie eine Schwäche an Viola, die damals Margrit Peterle hieß, entdeckten: Sie konnte das Tempo nicht halten. Ein fatales Manko für eine Tänzerin. Wie sehr sich auch ihre Trainer bemühten, sie in ein Ensemble einzubinden, stets tanzte sie aus der Reihe. Irgendwann gab man ihr eine Chance als Solistin, in der Hoffnung, dass hier ihre Temposchwäche weniger auffallen würde. Doch die Elevenvorstellung wurde zum Desaster. Selbst der unmusikalischste Besucher bemerkte, dass Margrit dem Orchester hinterherhinkte. Der Applaus war entsprechend spärlich ausgefallen. Zudem hatte Margrit die Häme in den Gesichtern der ehrgeizigen Mütter ihrer Kolleginnen genau gesehen. Man gönnte ihr den Misserfolg von ganzem Herzen. Sie hängte ihre Ballettschuhe an den Nagel und nahm Geigenunterricht. Wenn sie ihren Körper nicht beherrschen konnte, sollte ihr dies zumindest mit einem weiteren Instrument gelingen.
    Tatsächlich machte sie schnell Fortschritte. Mit dem Bogen wusste sie umzugehen, bald entlockte sie dem Instrument die wundervollsten Töne.
    Ihre Probleme mit dem Tempo hatte sie allerdings nicht ganz beheben können. Doch sie hatte so hart an sich gearbeitet, dass diese Schwäche fast nicht mehr auffiel. An der Hochschule für Alte Musik in Basel überzeugte sie mit ihrer Virtuosität. Bald wurde sie Mitglied eines Studentenensembles, das sich der Wiederaufführung von Liedern Oswalds von Wolkenstein verschrieben hatte. Seine Liedtexte waren in zwei Handschriften, die er selbst in Auftrag gegeben hatte, überliefert. Dazu Melodien von solcher Fülle und Vielfalt, dass man sich Jahre damit beschäftigen und immer neue Interpretationsvarianten entdecken konnte.
    Mit dem Eintritt in das Ensemble war der Zeitpunkt gekommen, die biedere Margrit Peterle abzustreifen und sich den Künstlernamen Viola Vielle zuzulegen. Fortan trommelten, sangen und fiedelten sich die fünf Studenten in die Herzen ihrer Zuhörer. Tobias Winkler, der Rührigste unter ihnen, übernahm die Aufgabe, die Gruppe auf professionelle Beine zu stellen. Anstatt des bisherigen Namens ›Basler Oldies‹, der an einem feucht-fröhlichen Abend in einer Studentenkneipe entstanden war, nannten sie sich fortan ›Freudenklänge‹. Tobias war es auch, der Sponsoren auftrieb, die ihnen die Produktion ihrer ersten CD ermöglichten, und der für sie die Verträge aushandelte.
    Bald waren die einstigen Newcomer weit über die Schweizer Grenzen hinaus eines der gefragtesten Ensembles für Alte Musik. Selbst im Fernsehen waren sie bereits mehrfach zu sehen gewesen. Viola Vielle dachte mit Genugtuung an die Ballettmütter von früher zurück. Was für Gesichter die wohl machten, wenn sie Viola im Fernsehen sahen? Erfreut waren sie sicher nicht, denn keine ihrer ehemaligen Kolleginnen war auch nur annähernd so erfolgreich wie sie.
    Mit 28 Jahren hatte Viola in ihrer Musikkarriere viel erreicht. Von ihr aus hätte es so erfolgreich weitergehen können. Wenn da nicht plötzlich ihre kleine Schwäche wieder aufgetaucht wäre. In den vergangenen Wochen hatte es deswegen in der Gruppe Feindseligkeiten gegeben.
    Viola wusste sehr wohl, dass es ihr Fehler war, wenn sie mit ihrem Einsatz zu spät kam. Doch das hätte sie nie zugegeben. Sie beschuldigte die anderen, zu früh dran zu sein, und forderte sie auf, sich gefälligst ihrem Tempo anzupassen.
    Tobias hatte bisher verhindert, dass der Streit offen ausgebrochen war. Doch sie hatte bemerkt, dass er der Einzige war, der zu ihr hielt. Das Verhalten der anderen drei wurde zunehmend dreister. Besonders Clara van Alt, die Mezzosopranistin, machte ihr mit giftigen Bemerkungen das Leben schwer. Viola vermutete, sie sei vor allem neidisch auf ihr gutes Aussehen. Kein Wunder, während Viola immer schlanker wurde, legte die andere an Umfang zu.
    Viola betrachtete die Kollegin, die sich gerade ihr Seidenkleid über der üppigen Taille zurechtzupfte. Plötzlich beugte sie sich zu Viola. So leise, dass Tobias es nicht hören konnte, zischte ihr die Sängerin ins Ohr: »Das ist heute das letzte Mal, dass ich mich nach dir richte. In Zukunft hältst du das Tempo – oder du
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