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Kurschattenerbe

Kurschattenerbe

Titel: Kurschattenerbe
Autoren: Sigrid Neureiter
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sich‹ in die Pause.« Der Leiter des Ensembles hatte wieder eine seiner kurzen Erläuterungen eingestreut, mit denen er durch das Programm führte. Die stämmige Sängerin gesellte sich zu ihm, gemeinsam stimmten sie das Duett an. Ob das diese Viola war, die bei der Probe mit dem Tempo gekämpft hatte? Jenny blätterte im Programmheft, konnte jedoch die winzige Schrift nicht entziffern. Bei den Lichtverhältnissen ließen ihre Kontaktlinsen sie im Stich. Diskret zückte sie ihre Lesebrille, die sie für solche Notfälle dabeihatte, und setzte sie auf. Da stand es ja: Viola Vielle, Instrument: Vielle. Aha, das war die große schlanke Geigerin mit der langen blonden Mähne. Eine aparte Person, das musste Jenny zugeben. Wenn sie auch mit ihrem länglichen Gesicht, der kurzen, nach oben gereckten Nase und der etwas vorstehendem Oberlippe ein wenig an ein Pferd erinnerte.
    Der Name musste ein Künstlername sein. Er war geschickt gewählt, wenn auch vielleicht etwas zu dick aufgetragen. Die anderen Ensemblemitglieder schienen Viola in nichts nachzustehen. Clara van Alt, Mezzosopran. Das war die rundliche Sängerin. Der Nachname jedenfalls klang sehr gekünstelt. Und woher kam das van? War sie Holländerin? Eher erinnerte sie Jenny an eine behäbige Schweizer Milchkuh. Allerdings konnte sie auch als dralle holländische Käsefrau durchgehen.
    Tobias Winkler, der Chef des Ensembles, hatte einen normalen Namen. Drehleier, Gesang und Laute stand bei ihm auf dem Programmzettel. Urs Maier, Flöte und Percussion. Auch dieser Name klang recht bodenständig. Aber was war das? Jean Cornemuse, Sackpfeife. Der Nachname war eindeutig eine Erfindung, handelte es sich dabei um die französische Bezeichnung für Dudelsack. Und dass der Vorname echt war, bezweifelte Jenny ebenfalls. Wahrscheinlich hieß der Dudelsackspieler in Wirklichkeit Johann Müller.
    Ob Maurice in Wahrheit Moritz hieß? Jenny traute dem Professor, der so großen Bedacht auf sein Image legte, zu, dass er bei seinem französischen Vornamen ein wenig nachgeholfen hatte. Andererseits, die Schweiz war drei-, sogar viersprachig. Da konnte eine solche Kombination durchaus in der Geburtsurkunde stehen.
    Jenny konzentrierte sich wieder auf den musikalischen Vortrag. Mittlerweile war das Ensemble bei Oswalds Lebensbeichte angelangt. Wenn man dem glauben konnte, was der große Dichtersänger da berichtete, musste er ein richtiger Haudegen gewesen sein. Mit zehn Jahren hatte er das Elternhaus verlassen, wurde Koch und Pferdeknecht, bevor er in Kreuz- und Feldzügen das Kriegshandwerk erlernte. Zehn Sprachen hatte er angeblich gesprochen und zahlreiche Instrumente gespielt. Die Königin von Aragon war so angetan von ihm, dass sie ihm ›Ringlein in den Bart flocht‹.
    Doch auch die edle Dame konnte den unsteten Ritter nicht zum Bleiben verführen. Um zu Geld zu kommen – Oswald war meist knapp bei Kasse –, schiffte er sich als Kaufmann ein. In Trapezunt – einem ehemaligen Kaiserreich, das heute zum kleinasiatischen Teil der Türkei gehört – bestieg er wieder eine Brigantine, um übers Schwarze Meer in die Handelsmetropole Kaffa auf der Krim zu gelangen. Wein sollte gegen Pelze getauscht und diese auf dem Rückweg in bare Münze verwandelt werden. Doch ein Seesturm machte Oswald einen Strich durch die Rechnung: Das Segelschiff war mit Maus und Mann versunken. Nur Oswald und ein Russe hatten sich retten können. Auf einem Weinfass treibend waren sie ans Ufer gelangt.
    Das klang für Jenny sehr abenteuerlich. Ob sich das wirklich so zugetragen hatte? Jenny hegte ihre Zweifel. Hatte der Dichter da vielleicht etwa Seemannsgarn gesponnen? Nein, ihr fiel ein, dass es handfeste Beweise für die wundersame Rettung auf dem Weinfass gab – beinahe jedenfalls. Denn Oswald hatte nach seiner Rückkehr von dieser Fahrt ein Votivbild malen lassen, das ihn auf einem Fass schwimmend zeigte. Lange Zeit hing es im Brixner Dom, bevor es einem Brand zum Opfer fiel. Ein Nachfahre Oswalds hatte es jedoch gesehen und eine genaue Beschreibung hinterlassen. Wenn der Sänger sogar Geld in die Hand genommen hatte, um das Bild zum Dank für seine Rettung malen zu lassen und der Kirche zu stiften, musste an der Geschichte etwas Wahres dran sein.
    Ganz in Gedanken nahm Jenny eine Bewegung neben sich wahr. Sascha kritzelte eifrig auf einem Schreibblock. Jenny beugte sich ein wenig näher, um besser sehen zu können. Das war kein Gekritzel. Das war eine vollständige Zeichnung, perfekt
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