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Küss den Wolf

Küss den Wolf

Titel: Küss den Wolf
Autoren: Gabriella Engelmann
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aus der Distanz zu betrachten. Zum Glück waren meine Freundinnen an meiner Seite. Ohne Tinka, Jenny und Lula hätte ich diesen Moment wohl kaum überstanden.
    Als die Urne aus meinem Blickfeld verschwand, war es, als wäre auch ein Teil von mir mit Leo gegangen.
    Der Teil, der ein wenig unbekümmert und naiv in diese vermeintlich schöne, starke und große Liebe vertraut hatte.
    Der Teil, der sich von Leo hatte blenden lassen. Der Teil, der im guten Glauben, Theodora zu helfen, beinahe das Familienerbe aufs Spiel gesetzt hätte.
    Wie gut, dass Tinka in diesem Moment den Arm um mich legte und mir sanft übers Haar strich. »Wenn ich daran denke, dass ebenso gut du jetzt dort drüben liegen könntest, wird mir immer noch schlecht«, sagte sie und holte mich mit diesen Worten wieder zurück in die Realität. Und diese Realität sah so aus, dass hier jemand beerdigt wurde, dem die Sehnsucht nach der Anerkennung seines Vaters so sehr die Sinne vernebelt und den Verstand geraubt hatte, dass er einen fatal falschen Weg eingeschlagen hatte. Eine traurige Sackgasse, die ihm letzten Endes den Tod gebracht hatte.
    Ich reckte das Kinn, straffte die Schultern und wandte mich zu den Girls: »Kommt, lasst uns gehen. Ich habe genug gesehen…«
    Und genug um ihn geweint, fügte ich in Gedanken hinzu.
    Bevor wir das Friedhofsgelände verließen, musste ich noch einmal daran denken, dass Leos Vater verhaftet und nur für diesen Tag wieder aus der Untersuchungshaft gekommen war. Ich drehte mich ein letztes Mal in die Richtung, in der Leos Grab lag, und flüsterte: »Ruhe in Frieden.«
    An einem Grab in der Nähe, das von einer traumhaft schönen Engelsplastik geschmückt wurde, kniete ein bildhübsches blondes Mädchen und legte einen Strauß gelber Tulpen ab. Um wen sie wohl trauerte? Ich atmete einige Male tief durch, schicke der Unbekannten in Gedanken einen Gruß und machte dann auf dem Absatz kehrt. Jetzt war ich bereit, meinem neuen Leben entgegenzutreten: In zwei Stunden würden wir Theodoras Rückkehr aus St. Peter-Ording und die Fertigstellung des Waldhauses feiern. Mein Vater, sein Bruder Jean und zwei seiner Freunde hatten geholfen, es wieder auf Vordermann zu bringen. Wie sich herausgestellt hatte, war Marcs Theorie richtig gewesen: Der von der Firma Lauterbach engagierte Gutachter hatte den Zustand des Hauses völlig falsch bewertet. Mithilfe einer zusätzlichen Finanzspritze aus dem Weingut meines Vaters erstrahlte das Waldhaus seit gestern wieder in vollem Glanz. Wie gut, dass Dad in letzter Minute die rettende Idee gehabt hatte, alte Weinbestände zu einer Auktion zu geben und zu hohen Preisen an Liebhaber und Sammler zu versteigern. Sein Bruder, Marlène und er hatten beschlossen, dass es viel wichtiger war, das Erbe der Familie Möller zu bewahren, als im Keller Weinbestände als Wertanlage zu horten.
    Als wir nach einer kurzen Busfahrt an der Endhaltestelle ausstiegen, war ich überglücklich, dort ein Gesicht zu sehen, das mir in den vergangenen Wochen sehr vertraut geworden war: das Gesicht von Marc. Wir quetschten uns in seinen klapprigen Käfer und fuhren den Rest der Strecke mit ihm gemeinsam. Während er sich auf die Fahrt konzentrierte und die drei Girls auf der Rückbank fröhlich vor sich hin schnatterten, konnte ich mein Glück immer noch kaum fassen.
    Theodora hatte recht gehabt: Mit Marc war es tausendmal schöner, als es je mit Leo gewesen war. Bei ihm fühlte ich mich geborgen und vertraut. In den vergangenen Wochen hatten wir kaum eine Stunde getrennt verbracht. Seite an Seite hatten wir bei der Renovierung von Theodoras Haus mitgeholfen, waren unzählige Male zusammen im Kino gewesen oder an der Elbe spazieren gegangen. Ich konnte mich kaum daran erinnern, jemals in meinem Leben so glücklich gewesen zu sein. Dass meine Eltern wieder zueinandergefunden hatten und es Theodora wieder gut ging, war einfach wunderbar.
    »Endstation, alles aussteigen«, lachte Marc und parkte den Käfer in Theodoras Einfahrt. Bis Verena, Jacques und Oma hier eintreffen würden, gab es noch ein bisschen was zu tun. Doch dank Irene und Marlène stand das Büfett bereits und wartete nur noch auf hungrige und feierlustige Gäste. Der einzige Wermutstropfen, der mein Glück noch trübte, war, dass ich Holla seit jenem dramatischen Nachmittag, an dem sie mir das Leben gerettet hatte, nicht mehr gesehen hatte, egal wie sehr ich mich auch bemühte, sie anzulocken.
    »Meint ihr, ihr könnt mich einen Moment entbehren?«, fragte
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