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Küss den Wolf

Küss den Wolf

Titel: Küss den Wolf
Autoren: Gabriella Engelmann
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Kinde geben sollte.
Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt,
und weil ihm das so wohl stand,
und es nichts anders mehr tragen wollte,
hieß es nur das Rotkäppchen.
    Luberon/Südfrankreich Mitte März 2011
    Während es zu Hause in Hamburg in Strömen regnete, stand ich vor unserem Weinberg und musste die Augen zusammenkneifen, weil ich mal wieder meine Sonnenbrille irgendwo liegen gelassen hatte. »Hier, koste mal«, sagte mein Vater und steckte mir eine Traube in den Mund. »Bäh, ist die sauer! Und ein kleines, schrumpeliges Mistding noch dazu«, antwortete ich und spuckte reflexartig die Beere aus. Jacques lachte sein unverwechselbares raues Jacques-Lachen und gab mir einen Kuss auf die Nasenspitze. »Wenn du in den Sommerferien kommst, sieht das alles hier schon ganz anders aus. Dann sind die Trauben reif und süß und es dauert nicht mehr lange, bis wir den ersten Chapéron Rouge keltern können.«
    »Chapéron Rouge? So wie Rotkäppchen?« Interessiert wandte ich den Kopf und sah meinen Vater prüfend an. »Bedeutet das etwa…?«
    »Richtig, meine Süße. Ich werde einen Wein nach dir benennen. Nach meiner heiß geliebten Tochter Pippa, dem Mädchen mit dem wildesten roten Haarschopf, den die Welt je gesehen hat.« Ein feiner Schweißfilm perlte von seiner hohen Stirn, während er das sagte. Im Luberon waren es heute Mittag beinahe 25°, eine Temperatur, um die mich meine Maki-Girls schon seit Tagen glühend beneideten.
    Ständig bekam ich SMS oder Facebook-Nachrichten von Tinka, Jenny und Lula, in denen sie sich darüber beschwerten, dass
    – ich in den Frühjahrsferien einfach nach Südfrankreich geflogen war
    – ich sie nicht mitgenommen hatte
    – das Wetter in Hamburg unter aller Kanone war
    – an der Jungs- und Partyfront Flaute herrschte und
    – es keinen Spaß machte, ohne mich Sushi essen zu gehen
    »Das ist ja aufregend«, antwortete ich und betrachtete den Weinberg plötzlich mit ganz anderen Augen. Dieser Anblick von Reben und knorrigen Rebstöcken gehörte seit meiner Kindheit zum Ferienalltag und war deshalb eigentlich nichts Besonderes mehr. Aber ein Rotwein, auf dessen Etikett mein Spitzname stehen würde, das war schon sensationell!
    »Verena wird sich bestimmt freuen, wenn sie das hört«, fuhr ich fort und versuchte, mir auszumalen, wie meine Mutter auf diese Neuigkeit reagieren würde.
    Nach ihr hatte mein Vater jedenfalls nie einen Wein benannt, egal wie verliebt er einmal in sie gewesen war.
    »Wie geht es deiner Mutter denn?«, wollte Jacques wissen und versuchte dabei, so teilnahmslos wie möglich auszusehen. Wie sehr ihm dieses Thema auch nach all den Jahren noch zu Herzen ging, erkannte ich nur daran, dass er mit seinem derben, abgelatschten Wanderschuh ununterbrochen auf den Boden klopfte.
    »Ich denke, sie ist ganz okay«, antwortete ich zögernd. Seit meiner Ankunft hatten wir es vermieden, über meine Mutter und die Trennung der beiden zu sprechen, die nun schon elf Jahre zurücklag. Sollte ich meinem Vater sagen, dass Mama sich fast nur für die Professur an der Uni und ihre Bücher interessierte? Man konnte sie nur selten dafür begeistern, am lebendigen Alltagsleben teilzunehmen und ein bisschen Spaß zu haben. In all den Jahren hatte sie auch keine echte Beziehung zustande gebracht.
    »Na, dann ist es ja gut«, antwortete mein Vater und sah gedankenverloren in die Ferne bis zu den Bergkuppen, die majestätisch am Horizont aufragten. So sehr ich meine Heimatstadt Hamburg auch liebte – hier war es einfach atemberaubend schön!
    Marlène, die Frau meines Onkels Jean, streckte den Kopf aus einem der Fenster mit hellblau getünchten Läden aus Fichtenholz. »Eh voilà, ihr beiden, Zeit für’s Mittagessen«, rief sie in unsere Richtung. Das ließen wir uns natürlich nicht zweimal sagen und saßen schon kurze Zeit später auf der Terrasse, wo Marlène liebevoll für uns gedeckt hatte. Es gab Ratatouille, einen französischen Eintopf, den sie aus dem Gemüse ihres gigantisch großen Nutzgartens gekocht hatte. Natürlich durften der obligatorische Knoblauch sowie typische Kräuter wie Thymian und Rosmarin nicht fehlen. Dazu gab es goldgebackenes, knuspriges Baguette. Mhm, très lecker! Auch so etwas schmeckt nirgendwo besser als in Frankreich.
    Mein Vater und sein Bruder tranken Rotwein, Marlène und ich Eiswasser aus einer bauchigen Kanne aus dunkelblauer Emaille.
    Während wir aßen, kamen mir Bilder eines meiner Lieblingsfilme in den Kopf. Ich hatte Ein ganz
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