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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Vorhang, diese Holzperlenschnüre, war vor seinen Augen rumgetanzt und hatte das ganze Bild, den Ladenraum, das Feuer, in Streifen geschnitten, undeutlich gemacht. Das Feuer fauchte die Regale hoch. Marco war überrascht, wie laut die Flammen waren, ein tiefes, durchdringendes Geräusch, wie eingroßer Fön. Dröhnend fraß es sich weiter vor. Er spürte die Hitze im Gesicht und hörte das Kreischen. Klamotten, Haare, Obst, Salatköpfe, daß das alles brennen konnte! Wenn die Knarre echt gewesen wäre, hätte er einfach alle weggeballert, nur um das nicht mehr hören zu müssen. Er war getürmt, es reichte ihm.
    Marco hatte die nächste Tür aufgerissen und gelangte auf einen betonierten Hof. Bloß nicht nach vorne auf die Straße rennen, bloß cool bleiben. Jetzt bist du die ganze Zeit cool geblieben, reiß dich zusammen, die sind erst mal beschäftigt. Er sah sich um. In seinem Rücken sprangen die Küchenbalkone und verglasten Wintergärten der alten Häuser in die Nacht vor. Wo Licht an war, sah er Nudelsiebe und Backformen an den Wänden hängen. Sonst waren viele Fenster noch dunkel, ein Glück. Direkt neben ihm plätscherte es wie verrückt, und er fuhr herum. Nur ein fettes Rohr, das außen am Haus langlief, wahrscheinlich war da oben einer aufs Klo gegangen. Von einem Balkon klingelte ein Windspiel, es war zum Ausflippen. Er mußte weg. Vor Marcos Nase standen ein Maschendrahtzaun und ein bescheuertes Holzgitter, an dem man Pflanzen hochziehen konnte. Dahinter ging es abwärts, so drei, vier Meter, in einen dunklen Garten. Gestrüpp, Bäume und dann wieder Häuser, das war die Olgastraße. Durch die Lücken konnte er die vorüberrasenden Autos sehen. Marco krallte sich in den Maschendraht und zog sich hoch, schwang ein Bein rüber, quetschte sich die Eier. Dann schloß er die Augen und sprang, blieb kurz im matschigen Gras liegen, weil er tatsächlich Sternchen sah, rote auf schwarzem Grund, und keine Luft mehr kriegte. Schließlich rappelte er sich wieder hoch, rannte durch den Garten bis auf eine breite asphaltierte Einfahrt, die steil bergab führte. Er erkannte das Altenheim, das mit dem hölzernen Reiter davor, dreieckig vorstechende Betonzacken, winzige leuchtende Fenster, vergitterter Hof, ›Achtung, Feuerwehrausfahrt‹, und stand schnaufend auf der Olgastraße. Gegenüber waren dieErdgeschoßfenster rot erleuchtet. Er sah die Umrisse der nackten Frauen, die sich träge hinter den Scheiben bewegten wie Fische im Aquarium. Daneben war der Holzzaun, hinter dem der Spielplatz liegt, der mit den riesigen bemalten Betonstufen, die runter auf den Mozartplatz führen. Anita war früher mit Mini-Marco ab und zu hingegangen. Auf dem blauen Karussell fuhren Marco und seine Jungs manchmal, abends, wenn keine Bälger mehr da waren, und drehten sich dann so schnell, bis sie fast kotzen mußten. Anita hatte Mini-Marco auf diesem Karussell angeschuckt. Er erinnerte sich an ihr lachendes Gesicht und ihre winkenden Hände, die wieder und wieder vorüberflogen. Wenn er torkelnd ausstieg, packte sie ihn unter den Achseln und hob ihn hoch.
    Dann sah er den Bus. ›43 Killesberg über Feuersee‹ leuchtete es orange. Der Bus rauschte den Berg runter, und Marco begann zu rennen. Die Haltestelle war direkt vor dem Altersheim, er schaffte es noch und sprang rein, setzte sich ganz nach hinten, Käppi tief runter und Gesicht gegen die Scheibe. Draußen flitzte das afrikanische Geschäft vorbei, rotgrüngelbe Streifen, der Baguetteladen, er sah den beleuchteten Automaten mit den Schubladen, aus dem sich die Nutten nachts ihr Futter ziehen, und das riesige fliegende Brot über dem Eingang, die Videothek, Rosebud, Jill Kelly, Leihen und Kaufen, Olgaeck, Übergang zur U-Bahn, bitte umsteigen. Während er auf dem Hochbahnsteig wartete, bekam er auf einmal wahnsinnigen Schiß. Dahinten, in der Blumenstraße, wo die roten Neon-Titten des Frauenumrisses im Sexladen-Schaufenster aufblinkten, da waren jetzt Murat, Hassan, Ufuk und vielleicht auch noch andere. Wenn die erfuhren, was mit Onkel Nâzım passiert war, dann gute Nacht. Die würden ihn einfach abstechen.
    Er legt einen Schein auf den Tresen und geht. Allmählich muß er zusehen, daß er wegkommt. In den Torbögen, die auf dieGleise hinausführen und durch die die Nachtkälte hereinweht, steht die Dunkelheit, und mitten in der bläulichen Schwärze liegen die abfahrbereiten Züge auf den Schienen wie schlafende Raupen, umgeben von roten und weißen Lichtern, der
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