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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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er sie nie wirklich hatte eins werden lassen?
    Warum denkt sie überhaupt daran? Sie wird sich nie wieder vor ihm ausziehen. Warum geht sie nicht sofort nach Hause? Sie kann Hannas Renault nehmen, falls er noch nicht abgeschleppt worden ist. Oder sie wird in die Straßenbahn steigen, an der Schloßstraße. Mit der U-Bahn zum Österreichischen Platz. Das dauert zehn Minuten, und sie ist wieder dort, wo sie hingehört.
    Sören kommt durch die Drehtür. Er trägt immer noch die Pilotenjacke, schwarze Jeans, Bikerboots. Some people call me the space cowboy, some call me the gangster of love . Über der linken Schulter hängt eine Sporttasche. Er schleudert sie unter die Bank. »Hast du tatsächlich gewartet?« Seine Augen hinter der mit winzigen Tröpfchen gesprenkelten Brille sehen müde aus. Judith nickt. »Jetzt ist endlich Feierabend, und du bist tatsächlich noch da. Ich hab von Jasper erfahren, daß du geheiratet hast, so einen Ingenieursheini.« Judith muß erst Jaspers füchsisches Junge-Union- Gesicht mit dem Schmiß auf der Bubihaut wegschieben, bevor sie antwortet: »Klaus ist Professor an der Stuttgarter Uni.« Sören grinst, der müde Ausdruck ist verschwunden. Er greift nach demKaffeebecher und nippt. »Äh, nur noch lauwarm. Seit 20 Stunden auf Station und nur Scheiße. Das da eben, das war noch die Krönung.« Er zerdrückt den leeren Becher in der Faust und runzelt die Stirn. Judith betrachtet seinen Mund. Sie möchte die Hand ausstrecken und mit dem Finger die scharf umrissenen Linien der Lippen nachfahren. »Klaus, das war doch diese trübe Tasse, die mal unter dir gewohnt hat. So ein Blonder. Muß ein Langweiler sein, sonst würdest du jetzt nicht hier in der Kälte rumstehen mit labbrigem Kaffee.« Sören berührt ihren Arm. Judith schließt die Augen, sie will sich in die Berührung stürzen. Jetzt passiert es, und ich lasse es zu, ich lasse die Larve fallen. »Sören, laß das bitte.« Sie flüstert die alte, fast vergessene Formel, die Einleitung zu ihren Zusammenkünften. Er fängt an. Er reißt ihre Sachen runter. Er ist der Bestimmer. Sören greift nach ihrem Arm, aber es ist nicht Judiths sehnendes Fleisch, das er packt, sondern der rauhe Stoff ihrer Jacke. »Wenn man dir vor sechs Jahren gesagt hätte, daß du mal so auf die Straße gehen würdest! Du siehst wie ein Öko aus. Aber Klaus gefällt das wahrscheinlich.« Sie möchte antworten, giftig, zynisch sein, aber sie kann nichts sagen, nur dastehen und warten, bis diese mißtönende Ouvertüre vorbeigegangen ist und die Hauptvorstellung anfängt. Sie ist überrascht von ihrer Gier, dem unverhohlenen Wunsch, von ihm angefaßt zu werden, starrt auf seine Hände mit den kurzgefeilten Nägeln, der vom vielen Waschen und Desinfizieren gespannten Haut. Sie hat nur den Wunsch, von ihm überwältigt zu werden in der Dunkelheit ihres Hackstraßenzimmers, sie hört das Quietschen der Klappcouch und riecht Sörens Schweiß. Wie oft ist das passiert, hundertmal, tausendmal, nur noch einmal. Sören hat ihren Ärmel längst wieder losgelassen. Er nimmt seine Tasche und schüttelt den Kopf.
    »Die hundertprozentige Judith. Da steht sie wieder und wartet, wie in alten Zeiten. Allein, wie du mich anschaust. Es war keine gute Idee, das hier. Ich hätte es wissen müssen. Geh nachHause zu deinem Klausi. Ich hau ab. Ich bin müde, und der ganze Dreck hier kotzt mich an.«
    Natürlich ist es billig, hinter ihm herzulaufen und ihn an der kalten Lederjacke festzuhalten. Es ist lächerlich »Du Arschloch, du warst schon immer ein Riesenarschloch!« zu kreischen. Es ist entwürdigend, wie er ihre Hand nimmt und sich losmacht, vorsichtig und bestimmt zugleich, ähnlich wie sie Kilians unter Wutgeheul in ihre Kleidung verklammerten Finger einen nach dem anderen umzubiegen und abzulösen pflegt. Es ist endgültig, wie er an der Pforte vorbeiläuft, mit raschen Schritten im Dunkeln verschwindet und dabei weiter den Kopf schüttelt.
    Judith geht langsam durch die mit bunten Metallplatten verkleideten Gänge der Unterführung ›Österreichischer Platz‹. Neben einem der orangefarbenen Fahrkartenautomaten verharrt sie kurz und lehnt das verheulte Gesicht gegen die Wand. Sörens Stimme sitzt in ihren Ohren und wiederholt unablässig die alten und die ganz frischen Beleidigungen. Sie hat ihnen nichts entgegenzusetzen und drückt die Fäuste gegen die Lider, spürt den hastigen Puls dahinter. Sie will nach Hause, zu ihrem Badezimmerschrank, dem Tavor. Wieviel wird nötig
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