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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Einsatzfahrzeuge erhellen die Umgebung wie einen kleinen Rummelplatz.
    Träge Qualmwolken ziehen unter der Markise von Nâzıms Laden hinweg durch die blauen Lichter, steigen in den rotbraunen Abendhimmel. Das Feuerwehrauto steht am Straßenrand, daneben zwei Rettungswagen, der Gehweg ist abgesperrt. Judith sieht Feuerwehrmänner mit gelben Helmen, Notärzte und Polizisten. Die große Scheibe von Nâzıms Auslage ist zersprungen. Die gläsernen Zacken, die noch im Rahmen stecken, bilden einen riesigen Stern, gefüllt mit Schwärze und Rauch. Judith steht und schaut, eine Gafferin neben anderen Glotzenden, die laut und durchdringend ihre Kommentare abgeben: »Brandstiftung, ganz sicher.« »Islamischten!« »Unsinn, das war die PKK!« »Das ist ein türkisches Geschäft.« »Den Nâzım, den fahren sie grad weg.« Sie hört die metallisch verzerrten Anweisungen aus den Funkgeräten der Einsatzkräfte, die ärgerliche Stimme eines Polizisten: »Hauet Se ab, hier geht’s net weiter!« Autotüren werden zugeknallt, dann ertönt das Martinshorn mit schneidender Lautstärke. Judith drückt die Fäuste gegen die Ohren. Den eigenen Kopf festhaltend, als könne er fortgerissen werden, starrt sie auf den zweiten Notarztwagen, der noch parkt. Zwei Personen sitzen zwischen den offenen Hintertüren, grell beleuchtet aus dem Wageninneren. Leonies Gesicht ist dunkel verschmiert, das rote Haar hängt strähnig in die Augen, die aussehen wie Löcher in einem Blatt Papier. Um ihre Schultern liegt eine Decke. Ein Notarzt reicht ihr einen Pappbecher. Ihr Mann sitzt neben ihr, er blickt zu Boden. Judith schlägt die Augen nieder, um Leonies Blick zu entgehen. Vielleicht hat sie sie ja gar nicht bemerkt. Am liebsten würde sie ihr Gesicht in den Händen vergraben wie ein kleines Kind, das glaubt, verschwunden zu sein, wenn es die Augen schließt. Sie steht auf der Constantinstraße und ist doch mitten in den Abendnachrichten, fast verwundert darüber, daß am Bordsteinrand nicht der Tickerstreifen mitläuft oder das Logo des Senders in einer Ecke ihres Gesichtsfelds auftaucht. So würde esriechen, wenn die Bilder aus Kabul, aus Kandahar, aus Bagdad einen Geruch hätten. Jetzt muß sie Leonie ansehen und ihren Mann, einen großen Sportlertypen, der zusammengekrümmt mit verbundenen Händen dasitzt, dazu den Stern in der Scheibe und die ausgebrannte Dunkelheit dahinter. Hier hat sie gestern noch gestanden, mit Kilian an der Hand. Das alles gehört nicht hierher und hat jetzt doch seinen Weg gefunden, zwischen Apfelkörbe und Basilikumtöpfe, in ihr Paradies.
    Der Notarzt spricht Leonie an, und sie wendet ihr Gesicht von Judith ab. Es ist, als ob ein Bann sich löst. Judith dreht sich um und läuft davon, rempelt ein paar Passanten an. Sie schaut nach oben. Die Häuser am Weg sehen aus wie immer, aber viele Fenster sind geöffnet, schwarze Köpfe in hell leuchtenden Rahmen. Sie hängen sich halb auf die Straße, lassen den Rauch und die Kälte in ihre warmen Zimmer. Judith ist aus dem Laufschritt ins Rennen gefallen, hat jede Zurückhaltung aufgegeben und flieht mit bebenden Nasenflügeln, ein feiges Tier, ein Hase oder etwas Ähnliches, das man als Ragout essen kann. Sie sieht ihr Haus wie ein riesiges Schiff in der Dunkelheit ankern. Das Hutzelmännle zieht noch immer seine freundliche Grimasse über der Tür. Pechschwitzer, Tröster, beschütze mich, laß mich wieder eintreten unter deinem steinernen Grinsen, ein Kind an jeder Hand.
    Ihr Blick wandert die einzelnen Stockwerke hoch: Bei Posselts ist es hell, bei Rapp dunkel, schwarzglänzende Scheiben, hinter denen sich nichts bewegt. Auch in den hinteren Räumen und in der Küche ist niemand, um Tee zu kochen oder den Auflauf aufzuwärmen, den sie vor dem Laternenlauf auf der Anrichte bereitgestellt hat. Es ist gleich halb acht, und Klaus ist noch nicht gekommen.
    Vor der Tür der Posselts tritt Judith von einem Fuß auf den anderen. Höfliches, kurzes Klingeln wird innerhalb einer Minute zu ausgedehnten Schellattacken. Schließlich nimmt sie den Finger nicht mehr vom Knopf. Die Tür bleibt geschlossen. Hinterden geriffelten Scheiben herrscht Helligkeit wie zum Hohn, und sie hört das Gekläff des Köters, das schließlich in langgezogene Heultöne übergeht.
    Im Gärtle findet Judith vier Apfelbutzen auf dem Tisch in der Hütte, auch das Knäckebrot ist verschwunden, ein paar Krümel panieren die Obstreste. Ihr Korb steht in einer Ecke neben den Gartengeräten. Wie Stunden zuvor steht
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