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Krieg der Sänger

Krieg der Sänger

Titel: Krieg der Sänger
Autoren: Robert Löhr
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der
Medikus zu einem Hackklotz vor dem Stall liefen, auf dem man das Federvieh zu
schlachten pflegte. Der Thüringer ging davor in die Knie und legte die Hand auf
den Hackklotz, den versehrten Finger als einzigen ausgestreckt. Der Arzt zog
das kleine Beil aus dem Holz, wog es in seiner Hand, war aber zu nervös, den
Schlag auszuführen, aus Angst, zu wenig oder gar zu viel abzutrennen. Darauf
entriss ihm der Ritter das Beil. Er musste es mit der unbeholfenen Linken
führen und konnte ebenso wenig zuschlagen, weil sein Blick durch die Tränen verschleiert
war. Schließlich trat ein altes, halb blindes Weib aus dem mittlerweile stattlichen
Publikum. Der Versehrte überließ ihr widerspruchslos das Beil, und mit einem
einzigen, sicheren Schlag trennte sie Fleisch von Fleisch. Einige Zuschauer
applaudierten, während das Mütterchen ungerührt zurück an ihre Arbeit ging.
Dies war die Frau, erklärte Dietrich, die, seit er sich erinnern könne,
sämtliche Hühner der Burg enthauptet hatte.
    Aus der Schmiede kam der Bursche mit dem glühenden Eisen gerannt.
Der Medikus streifte die mitgebrachten Lederhandschuhe über, packte das Eisen
mit der einen und die Hand des Ritters mit der anderen Hand und drückte das
rote Ende auf den Fingerstumpf. Es knisterte und dampfte. Dem Mienenspiel des
Ritters nach zu urteilen, übertraf dieser Schmerz alle vorangegangenen, und als
die Wunde zugebrannt war, brach er in eine Tirade gottloser Verwünschungen aus.
Dazu lief er im Matsch um den Hackklotz auf und ab.
    »Was machen wir mit dem Finger?«, fragte der Wundarzt zwischen zwei
Flüchen und wies auf den blutigen Überrest, der noch immer wie vergessen neben
dem Beil lag.
    »Was kümmert’s mich?«, erwiderte der Ritter mit zusammengebissenen
Zähnen. »Wenn kein Fräulein ihn als Reliquie aufbewahren will, gib ihn den
Hunden, die kriegen derzeit so wenig. Hol’s der Teufel, im Himmelreich seh ich
ihn wieder. Scheißt das Gotteslamm drauf! Ich brauche Bier.«
    Mit diesen Worten verließ der Thüringer den Ort seiner
Verstümmelung. Der Mediziner folgte ihm. Darauf zerstreute sich auch die Menge,
die der Lärm und das Blut angelockt hatten.
    »Ein Ritter mit den Manieren einer Sau und der Empfindlichkeit einer
abgestorbenen Eiche«, kommentierte Dietrich. »Als mein Herr seine tugendhafte
Geschichte des rüpelhaften, hartgesottenen Tafelrundenritters niederschrieb,
hat er sich zweifellos Gerhard Atze zum Vorbild erkoren.«
    Noch während Biterolf überlegte, welcher Tafelrundenritter gemeint
war, wechselte Dietrich das Thema und wies auf einen alten Mann und ein Mädchen
jenseits des Hackklotzes.
    »Wolfram und Walther habe ich dir zwar nicht vorstellen können«,
sagte er, »aber siehst du den Alten dort drüben, an der Hand des jungen Dings?
Das ist Reinmar von Hagenau, ihrer aller Lehrer. Die Legende. Der größte aller
lebenden Sänger. Er ist schon seit einigen Tagen hier.«
    »Wer ist das Mädchen?«
    »Seine Führerin.«
    »Führerin?«
    Weil Biterolf nicht begriff, wiederholte Dietrich die Geste von
zuvor und blies sich über die Fingerkuppen.
    »Er ist blind?«
    »Blind wie Homer. Ich sage, er hat zu viel ins Kerzenlicht gestarrt.
Er hingegen behauptet, seine Augen hätten genug gesehen für ein Menschenleben
und seien deshalb eines Tages einfach erloschen.«
    »Ganz sicher haben sie das … Immerhin, er war mit Barbarossa in
Mainz! Er hat mit Richard Löwenherz gesungen, mit Leopold von Österreich und
seinen Söhnen – und er hat sie alle überlebt! Er hat Kaiser Heinrich geholfen,
seine Gedichte zu schreiben!«
    »Davon wurden sie auch nicht besser.«
    »Haben er und Walther sich schon begrüßt?«
    Dietrich rieb sich kopfschüttelnd die Hände warm. »Ich kann es kaum
erwarten. Es soll ja immer großes Gezänk geben, wenn die Nachtigall von der
Vogelweide und die Nachtigall von Hagenau im selben Baum singen. Walther
wollte, geht das Gerücht, wegen Reinmar zuerst gar nicht kommen, aber seine
Eitelkeit oder Wolfram oder alle beide haben ihn dann wohl doch überzeugt. –
Klara! Hier!«
    Klara, ein hageres Mädchen mit Sommersprossen und flachsblonden
Haaren, führte den blinden Reinmar in die Richtung der beiden, und Dietrich
machte die Sänger einander bekannt. In seinen zahlreichen Pelzen und mit den
fremdgeführten Trippelschritten wirkte Reinmar ein wenig wie ein kleiner, in
die Jahre gekommener Tanzbär. Dennoch wäre Biterolf vor Ehrfurcht beinahe in
die Knie gegangen, als er dessen dargebotene Hand ergriff.
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