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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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mir, es stammt aus den Tiefen meiner traurigsten Träume.
    Es muss sein, schärfte ich mir ein. Jetzt. Bevor es draußen hell wird. Reiß dich zusammen. Sei tapfer. Danach kannst du dich ausruhen, alles vergessen.
    Ich stand auf, zog meine Kleider über mein Nachhemd an. Sämtliche Muskeln taten weh. Mein Körper war erschöpft und leer. Aber es musste sein.

DREIZEHNTE STATION:
J. wird vom Kreuz genommen.
    Draußen war es totenstill. Ich schnallte den Karton, in dem ich vor wenigen Tagen meine Einkäufe transportiert hatte, fest auf meinen Gepäckträger. Vorsichtig stieg ich auf mein Rad, verbiss dabei die Schmerzen. Bei jedem Tritt in die Pedale kullerte ein Stein in meinem Bauch hin und her. Während ich an den Gleisen entlangfuhr, schmeckte ich meinen gehetzten Atem und hörte das Schmatzen der Fahrradreifen auf dem Weg. Ich roch meinen Schweiß – eine Mischung aus Todesangst und Scham –, der aus der Kragenöffnung meiner Jacke emporströmte. Mamas Jacke. Es war fast Vollmond.
    Beim Bahnhof war kein Mensch zu sehen. Für den ersten Personenzug war es noch viel zu früh. Mein Rad stellte ich an der Weißdornhecke ab. Den Karton fest an die Brust gedrückt, lief ich um sie herum und kam so geradewegs auf den Bahnsteig. Ich schlich mich bis zur Bank am Bahnhofsgebäude. Im Stellwerk weiter oben brannte ein schwaches gelbliches Licht.
    Kurz ließ ich meine Hand noch in den Karton gleiten, nachdem ich ihn genau in der Mitte auf der Bank abgestellt hatte. Sanft streichelte ich mit den Fingerkuppen über die samtige Stirn. Mein Herz zerbrach. In tausend kleine Stücke.
    Dann hatte ich einen Filmriss. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich konnte erst wieder normal atmen, als ich mitsamt den Kleidern unter die Decke kroch, wo es noch nach frischem Brot und warmem Gras duftete.
    Ich schlief bis zum nächsten Mittag. Traumlos. Von allem entbunden. Verlassen.
    Ich nahm mir vor, weder in die Zukunft noch hinter mich zu schauen. Das war die einzige Überlebensstrategie. Angestrengt horchte ich auf die Impulse und Bedürfnisse des Augenblicks. Hunger hatte ich. Mir knurrte der Magen, als ich um die Mittagszeit von feierlichem Geläut geweckt wurde: die Glocken von Rom. Es war Ostersamstag.
    Doch zuerst wollte ich den tierischen Geruch, der mich umgab, von mir abspülen.
    Ich blickte auf das blutige Wasser in der Badewanne, schmiss ein zerschlissenes Handtuch über den von Adern durchzogenen Klumpen und stopfte alles in einen schwarzen Plastiksack. Anschließend schrubbte ich das Bad und ließ es mit hellem, warmem Wasser volllaufen. Mein gepeinigter, kaum geschrumpfter Körper sank unter die Oberfläche. Ich sah das schlaffe Fleisch meines Bauches, meine marmorierten Brüste mit den dunklen Warzen, die sich ausgedehnt hatten. Bewusst verdrängte ich jeden Gedanken an meinen kleinen Schwimmer in dem geheimen Meer. Ich konzentrierte mich auf mein Hungergefühl, stemmte mich aus der Wanne und zog mich an.
    In der Küche verschlang ich zwei doppelte Brote mitKäse. Gefolgt von einer Banane und einem Apfel. Ich trank eine ganze Kanne Tee aus. Die Strickjacke hing über einem Stuhl. Ich nahm sie in die Hände, knetete die Wolle, roch kurz daran. Sofort zeichneten sich zwei bizarre Flecken auf meinem T-Shirt ab: Muttermilch. Da klingelte es an der Tür. Rasch warf ich mir die Jacke über, knöpfte sie bis oben hin zu.
    Es war Matteo.
    «Ich weiß ja, dass du hier nicht gestört werden willst», sagte er, während er hinter mir her durch den schmalen Hausflur ging, «aber du hast gestern dermaßen schlecht ausgesehen. Deshalb wollte ich mal nach dir sehen, bevor ich aufbreche. Ich gehe ein paar Tage segeln. Das heißt, wir gehen segeln. Wir.»
    Es sah mich forschend an.
    «Wie das blühende Leben siehst du übrigens immer noch nicht aus. Soll ich vielleicht einen Arzt rufen? Oder deinen Vater bitten, dich abzuholen? Ist dir denn so kalt?»
    Ich antwortete Ja, Nein, Ja. Hielt den Kragen der Jacke fest um meinen Hals geschlossen. «Einen Arzt? Was sollte der denn für mich tun können? Und meinen Vater? Nein, mir wird schon bei dem Gedanken schlecht, ein Stück mit dem Auto fahren zu müssen. Ich habe einfach eine Magen-Darm-Grippe und bin müde. Todmüde. Das geht von selbst wieder vorbei. Ich bin gestern um acht Uhr schlafen gegangen und erst vor einer halben Stunde aufgewacht. Übrigens habe ich schon wieder Appetit.»
    Um meinen Worten Kraft zu verleihen, schmierte ich noch ein Butterbrot, das ich mir mit
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