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Kreuzstein

Kreuzstein

Titel: Kreuzstein
Autoren: Ulrich Schreiber
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wieder so ein Spinner.« Er legte auf, setzte sich an den Schreibtisch und schloss die Augen. Das Telefonat hatte ihn nur wenig abgelenkt. Ganz langsam holte er sich das Gefühl zurück, das Gefühl von Anjas Brust an seinem Arm.
    Nein, natürlich würde er jetzt nicht zurück ins Labor rennen, um sie in die Arme zu nehmen, ohne sich darum zu scheren, was die Hörnigs dieser Welt darüber zu tratschen hatten. Und schon gar nicht würde er sie in sein Zimmer zerren und abschließen, um seinen Trieben freien Lauf zu lassen.
    Aber alles Einreden half nichts. Wie ferngesteuert stand er auf und machte die ersten Schritte zur Tür. Bevor er sie jedoch öffnen konnte, klopfte es.
    Seine Sekretärin stand direkt vor ihm.
    »Anja hat sich heute früher verabschiedet. Sie muss noch ihren Freund vom Bahnhof abholen.«
    Allensteins Hochstimmung verflüchtigte sich wie die Kölschkrone in einem gefetteten Bierglas. Aus seinem Mund drangen nur noch Satzfragmente und sinnloses Gestammel. Die Hörnig setzte ihr maximal penetrantes Grinsen auf.
    »Hat Sie der Anrufer so verwirrt?«, fragte sie betont. »Das scheint ja ein merkwürdiger Kauz gewesen zu sein.« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab und verschwand im Sekretariat.
    Am nächsten Tag beschloss Allenstein, zu Hause zu bleiben. Zwei Diplomarbeiten, ein Gutachten für eine auswärtige Doktorarbeit und ein Forschungsantrag warteten auf ihn. Alles Dinge, für die er Ruhe brauchte. Der eigentliche Grund jedoch war das dumpfe Gefühl, sich gestern ein wenig lächerlich gemacht zu haben. Außerdem quälte ihn der Anflug eines grippalen Infekts. Seit Tagen schon machte der November seinem Ruf alle Ehre, mit Kälte, Nebel und Nässe. Allenstein fröstelte permanent, und dann hatte sich am Morgen auch noch etwas in seinem rechten Ohr festgesetzt. Seitdem nervte ihn ein penetrantes Pfeifen.
    Bereits als er die erste Arbeit durchblätterte, hatte er genug. Er sprang auf, massierte seinen Nacken und drehte den Kopf mehrfach in beide Richtungen. Schließlich schlug er mit der flachen Hand auf die Ohrmuschel. Es half nichts. Im Gegenteil, ein zweiter Ton, höher als der erste, gesellte sich im Hintergrund dazu.
    Eigentlich kannte er diese Art von Tinnitus. Immer mit einer beginnenden Erkältung stellte er sich ein, dauerte aber nur kurz. Meistens war es mit einem kräftigen Schlucken getan. Bei hartnäckigen Tönen hatte er einen Trick herausgefunden. Er konzentrierte sich auf die Frequenz des Tones und versuchte, die Lautstärke von innen heraus zu verstärken. Das funktionierte so gut, dass der Ton immer lauter und fast schmerzhaft wurde. Bis zu einem bestimmten Punkt. Dann starb er plötzlich weg.
    Doch diesmal half auch diese Methode nicht. Nach einer halben Stunde erfolglosen Arbeitens reichte es ihm. Kurzerhand lud er sich ein Programm zur Erzeugung von Tönen aus dem Internet herunter und drehte so lange an den Frequenzen, bis er seinen Ton exakt gefunden hatte.
    Immerhin, dachte er, ein C. Wenig später hatte er den zweiten, etwas höheren Ton. Ein Es. Merkwürdig.
    »Na, nicht schlecht«, murmelte er vor sich hin, »ich habe eine Terz im Ohr.«
    Das Programm gefiel ihm. Fast zehn Minuten lang spielte er die angebotenen Möglichkeiten durch und bemerkte bei den vielen Pfeiftönen gar nicht, wie sich seine Ohrgeräusche langsam verflüchtigten.

| 7 |
    Das große, mehrstöckige Geschäfts- und Fabrikationshaus in München war mehrfach gesichert. Bereits einige Tage zuvor hatte sich der vollbärtige Mann, der Knickerbocker und Baskenmütze als auffälligste Kleidungsstücke trug, über die Verhältnisse im Inneren einen Eindruck verschafft. Die Alarmanlage war zu kompliziert. Deshalb hatte er sich für einen anderen Weg entschieden. Jetzt, nachts um halb vier, war die günstigste Zeit zwischen den Kontrollrunden der Wachleute. Bereits einige Nächte lang hatte er aus seinem Lieferwagen heraus das Gebäude beobachtet.
    Am vorangegangenen Abend war es so weit gewesen. Den Behälter mit Brandbeschleuniger konnte er problemlos in die Stoffabteilung schmuggeln und an einer geeigneten Stelle verstecken. Es gab allerdings ein unkalkulierbares Risiko. Würde die Leistung des Senders ausreichen, um die Abschirmung der dicken Gebäudemauern zu durchdringen? Seine Hände waren eiskalt, obwohl er in Schweiß gebadet war. Es musste Angstschweiß sein, weil er seinen eigenen, strengen Achselgeruch riechen konnte. Vorsichtig zog er an der Verpackung, die er unter dem Beifahrersitz ertastete.
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