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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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sie die Beherrschung wieder, und Lebensmut und -energie kehrten allmählich zu ihr zurück.
    Der beim Abschied und der Trennung von Bechmetew in ihrem Herzen erstarrte Schmerz rückte plötzlich weit weg, als hätte sie ihn, nachdem
sie sich ausgeweint hatte, für immer bezwungen, zudem widersprach langes Klagen ihrer energischen Natur. Jener Schmerz der Trennung von einem fremden Menschen erschien ihr als Vergehen an ihren Kindern und ihrem Mann. Es bereitete ihr jetzt Gewissensbisse, weggefahren zu sein und ihren ungehaltenen und noch kranken Mann allein gelassen zu haben. Sie musste daran denken, wie die Kinder sie gebeten hatten, nicht zu fahren – und sie fühlte sich umfangen von der Welt ihres Familienlebens. Besonders lebendig trat Anna der kleine Juscha mit seinem zarten, klugen Gesicht vor Augen, dazu die lebhafte Manja mit ihren rasch gefällten entschiedenen Urteilen. Der Unterricht, den sie ihnen erteilte, fiel ihr ein und ihre Gedanken über die Wichtigkeit der Erziehung dieser künftigen Generation. Als sie das Haus erreichte, hatte sie ihre geistige Stärke wiedergewonnen, sie betrat es im vollen Bewusstsein ihrer Pflicht und wie erneuert.
    Sie zog ihren Sommermantel aus, ging zunächst in die Kinderzimmer und dann leise zur Tür des Arbeitszimmers ihres Mannes, der noch nicht schlief.

XII
    Sobald für den Fürsten feststand, dass Anna weggefahren war, ohne bei ihm vorbeizusehen, war er in schreckliche Erregung geraten, und die wildesten Gedanken kamen ihm in den Sinn.«Womöglich ist sie ganz und gar weggefahren und kommt nie mehr wieder», dachte er.
    Er erschauerte vor seelischem Schmerz bei der Erinnerung, wie er seine Frau weggestoßen hatte. Niemals zuvor war ihm das passiert.«Ach, ach!», stöhnte er; aber plötzlich fiel ihm ein, wie dieser fette Kerl von deutschem Arzt – mit eigenen Augen hatte er es gesehen -, als er die Wunde auf der Stirn des kleinen Jungen vernähte, mit seinen weißen Händen Annas Busen gestreift hatte.«Ihren Busen! Und bestimmt mit Absicht! Und was hat sie in diesem Moment empfunden?! »
    Der Fürst sah ihn deutlich vor sich, diesen vollen Busen, der ihn so viele Male alles auf der Welt hatte vergessen lassen und ihn zum Sklaven dieser Frau machte!
    Im Grunde seines Herzens war ihm bewusst, dass er vielleicht doch nicht recht hatte, dass Annas aufrichtiger Blick, dass diese trotz ihrer dreißig Jahre beinahe kindlichen Augen nicht lügen
konnten, doch die Qualen der Eifersucht peinigten ihn immer mehr.«Und warum ist sie jetzt weggefahren?», überlegte er.«Dort ist Bechmetew… Wer weiß, wenn nicht der Arzt, so umarmt sie möglicherweise mein sogenannter Freund in diesem Augenblick irgendwo im Wald? Ich kenne sie nicht, sie ist für mich geheimnisvoller und unverständlicher als sonst jemand. Etwas ist in ihr, was sie verschweigt und was sich mir ständig entzieht.»
    Der Fürst versuchte zu lesen, ging zu den Kindern, sah auf die Uhr und fand nirgends Ruhe.
    Die Kinderfrau brachte ihm die beiden Jüngsten – Anja und den kleinen Juscha – zum Gutenachtsagen. Er sah seine Tochter an wie eine Fremde und ergriff ihre Händchen, um sie zu betrachten.«Wer weiß, vielleicht ist dieses Mädchen gar nicht meine Tochter!… Och!… Ja, es heißt, sie hätte meine Hand, meine Art, die Gabel anzufassen, sich die Hände abzutrocknen… Das stimmt alles.»
    Er blickte sein Söhnchen an, zog den Kleinen an sich und küsste ihn. An dieser Kopie seiner selbst jedenfalls konnte es für ihn keinen Zweifel geben.
    Etwas später kamen Manja und Pawlik ebenfalls Gute Nacht sagen. Er schnitt für sie Papiermännlein
aus und brachte ihnen bei, wie man sie anblies, damit sie miteinander kämpften. Die Kinder lachten, doch ihr Gelächter reizte ihn bloß.
    «Nun geht, geht schlafen. Ist Juscha eingeschlafen? »
    «Schon lange. Er hat geweint, nach Mama verlangt, damit sie mit ihm betet.»
    «Na, nun geht», sagte der Fürst zunehmend gereizt.
    «Hat nach ihr verlangt, damit sie mit ihm betet, und sie kokettiert inzwischen in ihrem weißen Festkleid mit diesem wandelnden Gerippe», ging es ihm durch den Kopf.
    Er legte sich auf den Diwan, zündete sich eine Zigarre an und begann über sein Verhältnis zu seiner Frau nachzudenken:«Wie geduldig und gut sie mich gepflegt hat! Bestimmt aus schlechtem Gewissen. Und wenn sie sich nun wirklich schuldig gemacht hat?»Mit schrecklicher Klarheit und überzeugt von der Schuld seiner Frau, stellte er sich ihre ehebrecherische Liebe zu
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