Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
Vom Netzwerk:
laut schluchzende Manja weg.
    Der Fürst trat zu seiner Frau und sah den Arzt
fragend an. Der sagte kein Wort und setzte sein Werk fort.
    Gegen zehn Uhr morgens begann Anna zu sich zu kommen. Der Arzt schickte alle hinaus, aus Furcht, die Aufregung könnte für die Kranke zu groß sein. Die Wunde wurde verbunden, und der Verband verlieh Anna ein ungewohntes, klägliches Aussehen. Endlich schlug sie die Augen auf und sah sich gehetzt um.«Rufen Sie den Fürsten», sagte sie leise und schloss wieder die Augen.
    Der Fürst kam herein und beugte sich über sie; sie öffnete ihre großen schwarzen Augen und schien ihre ganze Kraft anspannen zu müssen, als sie mit schwacher, dumpfer Stimme zu sprechen anhob:«So musste es kommen … Verzeih! Dich trifft keine Schuld … Aber für den Fall, dass ich sterbe, muss ich dir sagen …»Sie stockte und schloss die Augen.
    «Was? Was?… Sprich um Himmels willen! Sag mir schnell …», beschwor sie der Fürst, der ein Schuldgeständnis von ihr erwartete.
    «Dass ich dir niemals untreu gewesen bin, dass ich dich geliebt habe, so sehr ich konnte, und rein vor dir und den Kindern sterbe. Aber so ist es besser! … Oh, wie bin ich müde!»Sie seufzte und verstummte.

    «Ich habe mich schuldig gemacht an dir, Anna. Anna, meine Freundin, verzeih mir …»Der Fürst nahm schluchzend Annas Hand und legte sie an seine Wange. Die Hand erkaltete.
    «Wo sind die Kinder?», fragte Anna plötzlich und richtete sich leicht auf.«Schnell, holt schnell die Kinder!»
    Sie sank erschöpft zurück und schloss die Augen. Als sie sie wenige Minuten später wieder öffnete, sahen ihre Augen niemanden mehr an. Sie waren ernst, und ihr Blick ging irgendwohin, über alles Irdische hinaus.
    «Ich wollte eine andere Liebe. So eine, wie …»Anna hob die Augen zu ihrem Mann, und als erkenne sie ihn nur mit Mühe, fügte sie hinzu:«Dich trifft keine Schuld. Du konntest nicht begreifen, was …»Sie stockte und fügte unter Anstrengung hinzu:«… was wichtig ist in der Liebe…»
    Man brachte die verschreckten, weinenden Kinder. Anna küsste sie und wollte sie bekreuzigen, wie sie es jeden Abend getan hatte, wenn sie ihnen gute Nacht sagte, doch ihre Hand fiel herab. Die Kinder wurden fortgebracht, und etwas Unheilvolles, Stilles und Schreckliches durchzog den Raum, bedrückend wie eine schwere Wolke.
    «Natürlich …», sagte Anna leise.« Cette clef -
c’est l’infini …», brachte sie, wie im Fieber, noch leiser hervor, da ihr aus irgendeinem Grund Lamartines Worte in den Sinn kamen, die ihr seinerzeit Bechmetew vorgelesen hatte.
    Der Arzt trat zu der Kranken. Er wiegte leicht den Kopf und machte dem Fürsten ein Zeichen. Der schluchzte leise.
    Anna kam nicht mehr zu sich. Genau um zwölf Uhr verschied sie, und abends um sieben Uhr lag sie auf dem Tisch im großen Salon in einem hellen Kleid, das in seiner unbedacht wirkenden Festlichkeit einen beklemmenden Gegensatz bildete zu der düsteren Ernsthaftigkeit des erstarrten Totengesichts mit der eingeschlagenen Schläfe.
    Die Verzweiflung des Fürsten hatte etwas Schreckliches. Es war die Verwirrung eines Kindes, das sich im Wald verlaufen hat. Er rannte gegen die Wände an, schrie, stöhnte, warf sich auf Diwane und Sessel und bat alle, ihn zu töten, ins Gefängnis zu stecken, zu erschießen. Er aß, trank und schlief nicht.
    Freunde und Verwandte schüttelten den Kopf und sagten, dass er den Verstand verliere. Da jeder seine entsetzliche Verfassung sah, fragte ihn keiner, wie es zu Annas Tod gekommen war, und niemand hörte ihm zu.

    «Sie ist gestürzt und hat sich fürchterlich verletzt», sagten alle.
    Die abgehärmten Kinder schlichen trostlos durch die Zimmer, als suchten sie etwas. Die älteren weinten sich die Augen aus, dass man um sie bangen musste. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand Annas Handarbeitskästchen, daneben lag eine Arbeit, die Nadel schien gerade erst hineingesteckt worden zu sein. Auf den Fensterbrettern blühten Rosen, die sie und die Kinder gestern noch mit einer kleinen Gießkanne gegossen hatten. Da waren auch die Pappsoldaten, mit denen sie und der kleine Juscha gespielt hatten – er sollte sie zu Fall bringen. Beide hatten gelacht, als der Fürst hereingekommen war. Auf dem Schreibtisch lag ein nicht zu Ende geschriebener Brief an die Schwester Natascha und daneben in dem Sessel Annas weißer, mit dunklen Federn gesäumter Umhang, als hätte sie ihn eben von den Schultern gleiten lassen. Alles machte den Eindruck, als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher