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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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Bechmetew vor.
    Er sprang auf, öffnete das Fenster, blickte zu dem runden, hellen, ihm dreist erscheinenden Mond empor und lauschte auf die Laute der Nacht. Pferdegetrappel und das Geräusch einer
fahrenden Kutsche wurden hörbar. Immer näher kam sie.
    «Das ist sie», dachte der Fürst. Doch es war der Arzt, der vom Picknick nach Hause zurückkehrte und, da er den Fürsten am Fenster sah, sein Pferd anhielt.
    «Sie schlafen noch nicht, Fürst? Das ist nicht gut für einen Kranken.»
    «Kommen Sie doch einen Moment herein, erzählen Sie mir von dem Ball bei Warwara Alexejewna. »
    «Entschuldigen Sie, Fürst, ich kann nicht. Morgen früh steht mir im Dorf eine Operation bevor, dazu muss ich frisch sein und zeitig aufstehen.»
    «Ist die Fürstin auf dem Heimweg? Haben Sie sie gesehen?»
    «Ja, gewiss! Nun, ich habe sie nicht beneidet. Sie wurde in eine Kutsche mit diesem schwindsüchtigen Bechmetew gesetzt, er hat sie irgendwohin gefahren, um ihr malerische Flecken zu zeigen; er lässt sich nichts sagen, dabei ist es kalt und feucht. Malerisch – bei seinem Zustand! Der Mann ist völlig am Ende. Drei Monate bleiben ihm vielleicht noch.»
    «Nun, leben Sie wohl, Doktor, es ist kalt; ich danke Ihnen», sagte der Fürst plötzlich in gereiztem Ton und klappte das Fenster zu. Sein
Gesicht nahm einen fürchterlichen Ausdruck an. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, Anna war verliebt, wahrscheinlich hatte sie ein Verhältnis mit diesem Bechmetew! Der Fürst rang nach Luft. Er stand am Schreibtisch und schob mit nervösen Bewegungen Gegenstände hin und her, legte Bücher und Papiere von einer Stelle auf die andere und lauschte auf zu ihm dringende Laute.
    Bald näherte sich auf weichen Gummireifen Annas Kutsche und hielt am Eingang. Der Fürst hörte, wie seine Frau eintrat, wie sie ablegte, zu den Kindern ging und sich dann mit leichten, fast lautlosen raschen Schritten seinem Arbeitszimmer zuwandte. Er stand die ganze Zeit reglos.
    «Du schläfst noch nicht?», fragte Anna leise an der Tür.
    «Gemeine Betrügerin! Verstellt sich noch!», dachte der Fürst und griff nach dem schweren weißen marmornen Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch.
    Anna öffnete die Tür und trat auf ihren Mann zu.«Was ist mit dir? Geht es dir schlechter?»
    «Mir geht es nicht nur schlechter, entweder wird mir das Herz zerspringen, oder der Schlag trifft mich. Ich ertrage dein Verhalten nicht länger.»

    «Mein Verhalten? Aber was habe ich denn getan?»
    «Wage bloß zu behaupten, dass du nicht in Bechmetew verliebt bist?»
    Anna errötete und sagte:«Ich liebe Dmitri Alexejewitsch sehr, und…»
    Sie verstummte.
    «Vielleicht willst du noch behaupten, du seist nicht mit ihm den ganzen Abend vor aller Augen und wer weiß wo in der Kutsche herumgefahren! »
    «Er reist morgen ab, und es tut mir sehr leid…»
    «Und du liebst ihn und bist schon lange seine Geliebte!»
    «Schweig um Himmels willen!»
    «Und ich bringe dich um, du gemeines, liederliches Frauenzimmer … Ich dulde das schon zu lange, ich werde nicht erlauben … Meine Ehre, die Ehre meiner Familie …»Der Fürst erstickte fast vor Wut und Erregung.
    «Deine Ehre! Ach, deiner Ehre wegen kannst du unbesorgt sein», verteidigte sich Anna.«Aber beruhige dich um Himmels willen, das schadet dir …»
    Sie trat dicht an ihren Mann heran und fasste nach seiner Hand, doch ihre Berührung ließ ihn endgültig explodieren. Er packte den Briefbeschwerer,
riss ihn hoch und schrie:«Geh! Oder ich bringe dich um!»
    «Aber wofür? Kennst du mich denn immer noch nicht? Beruhige dich doch! Hätte denn überhaupt etwas sein können?»
    «Du lügst … Schweig! Ich garantiere für nichts, geh!»Er zitterte am ganzen Körper, bald ließ er den Briefbeschwerer sinken, bald hob er ihn hoch.
    Anna versuchte noch einmal, die Hand des Fürsten zu ergreifen, doch er wandte sich blitzschnell ab und stieß sie weg. Als sie hinter den großen Schreibtisch lief, holte er aus. Der Briefbeschwerer flog über den Tisch, traf Anna mit voller Wucht an der Schläfe und krachte dann zu Boden.
    Wie ein angeschossener Vogel mit herabsinkenden weißen Flügeln knickte Anna zusammen und fiel in die weichen Falten ihres Kleides. Ein kurzes dumpfes Stöhnen, dann verlor sie das Bewusstsein.
    Der Fürst stürzte zu ihr hin. Aus der blau verfärbten Schläfe rann ein dünner Blutfaden, der in roten Tröpfchen auf ihr weißes Kleid fiel. Annas Gesicht war totenbleich, die Lippen standen offen, die Augen hatten sich
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