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Kraft des Bösen

Kraft des Bösen

Titel: Kraft des Bösen
Autoren: Dan Simmons
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während er den Lüster hin und her schwang, die linke Hand ausstreckte und mit den Krallen nach dem Geländer greifen wollte, das mit jedem Schwingen näher in seine Reichweite kam.
    In seinen Glanzzeiten - mindestens ein Jahrhundert früher - hätten die Halterungen problemlos das zehnfache Gewicht von Justin zusätzlich aushalten können. Die Eisenkette und Haltebolzen hätten es immer noch geschafft. Aber der zwanzig Zentimeter starke Holzbalken, in dem sie festgeschraubt waren, hatte mehr als einhundert Jahre die Feuchtigkeit von South Carolina, Insekten und mangelnde Pflege erdulden müssen.
    Natalie sah zu, wie Justin nach unten stürzte und der Kristallüster hinterher, gefolgt von einem eineinhalb Meter durchmessenden Stück Deckenmörtel, Stromkabeln, Metallbolzen und verfaultem Holz. Der Lärm des Aufpralls war beeindruckend. Splitter geborstenen Kristalls regneten auf die Wände wie Granatsplitter.
    Natalie wollte nach unten, die Pistole und das C-4 holen, wußte aber instinktiv, daß beides unter den Trümmern in der Diele begraben sein würde.
    Wo bleibt die Polizei? Was ist denn das für eine Gegend?
    Natalie fiel ein, daß viele Häuser in der Nähe an früheren Abenden dunkel gewesen waren; die Nachbarn waren nicht da oder schon sehr alt. Ihr Eindringen war für sie selbst laut und dramatisch gewesen, aber es war durchaus denkbar, daß noch niemand das Auto gesehen und sich zusammengereimt hatte, woher der Lärm gekommen war. Von der Straße aus war das Auto bestimmt nicht hinter Melanies Backsteinwand zu sehen. Zwei der vier Schüsse, die sie abgefeuert hatte, hätten eigentlich so laut sein müssen, daß man sie hören konnte, aber die tropisch dichte Vegetation im ganzen Block dämpfte und verzerrte Geräusche. Vielleicht wollte sich auch nur niemand einmischen. Sie sah auf ihre blutverschmierte Armbanduhr. Noch keine drei Minuten waren vergangen, seit sie zur Eingangstür hereingekommen war.
    O Gott, dachte Natalie.
    Culley zog sich auf den Treppenabsatz und sah mit seinem blassen, idiotischen Blick zu Natalie empor.
    Natalie weinte lautlos und schwang den Stuhl nach seinem Kopf - einmal, zweimal, dreimal. Eines der Stuhlbeine brach und prallte als Querschläger von der Wand ab. Culleys Kinn schlug auf Holz, als sein ganzer Körper fünf Stufen hinunterrutschte.
    Natalie sah, wie er das blutige Gesicht hob, mit Armen und Beinen zuckte und sich langsam wieder aufzurichten begann.
    Sie wirbelte herum und schlug mit dem Stuhl gegen die schwere Tür. »Hol dich der Teufel, Melanie Fuller!« schrie sie, so laut sie konnte. Nach dem vierten Schlag zerbrach der Bentwood-Stuhl in ihren Händen.
    Und die Tür schwang nach innen auf.
    Sie war gar nicht abgeschlossen gewesen.
    Die Läden vor den Fenstern waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen, kaum etwas Licht der Vordämmerung drang herein. Oszilloskope und andere lebenserhaltende Geräte zeichneten die Bewohner im fahlen elektronischen Licht ab. Schwester Oldsmith, Dr. Hartman und Nancy Warden - Justins Mutter - standen zwischen Natalie und dem Bett. Alle drei trugen schmutzige weiße Kittel und stellten identische Mienen zur Schau - Mienen, die Natalie lediglich in Dokumentarfilmen über die Überlebenden von Konzentrationslagern gesehen hatte, die durch den Stacheldraht den siegreichen Armeen entgegenblickten - große Augen, hängende Kiefer, Fassungslosigkeit.
    Hinter der letzten Verteidigungslinie stand das große Bett mit seiner Insassin. Das Bett hatte einen Baldachin aus Spitzengaze, ein Sauerstoffzelt aus durchsichtigem Plastik trug weiter dazu bei, vor Blicken abzuschirmen, aber Natalie konnte mühelos die ausgemergelte Gestalt auf den Kissen erkennen: das runzlige, verzerrte Gesicht mit dem glotzenden Auge, den altersfleckigen Schädel mit dem dünnen, blaugetönten Haar, den skelettgleichen rechten Arm, der über der Decke lag, und die Finger, die sich unwillkürlich zuckend um Laken und Decke krallten. Die alte Frau wand sich kläglich in ihrem Bett und beschwor wieder das Bild von einem schuppigen, an Land zappelnden Meeresbewohner herauf, das Natalie schon einmal eingefallen war.
    Natalie sah sich rasch um und vergewisserte sich, daß niemand hinter der Tür stand oder vom Flur hereinkam. Rechts von ihr stand ein uralter Frisiertisch mit beschlagenem Spiegel. Kamm und Bürste waren sorgsam auf ein vergilbtes Deckchen gelegt worden. Blaue Haarsträhnen hafteten an den Borsten. Links von Natalie lag ein ganzer Haufen Essentabletts zwischen
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