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Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau

Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau

Titel: Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau
Autoren: Petros Markaris
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essen.«
      Plötzlich wird ihr schmächtiger Körper von einem Hustenanfall geschüttelt, wobei sie nur aus völliger Entkräftung nicht noch heftiger hustet.
      »Maria, tu die Händ' weg von der Pitta! Maria, tu die Händ' weg von der Pitta!«, sagt sie immer und immer wieder zwischen zwei Atemzügen. Dann überkommt sie wieder der Husten.
      »Was sagt sie?«, fragt Murat, der neben mir steht.
      »Wie mir Vassiliadis erzählt, beschreibt sie ihre Reise von Kerasounta nach Istanbul. Sie waren drei Tage und Nächte unterwegs. Scheinbar hatte ihre Mutter als Wegzehrung eine Käsepitta zubereitet.«
      Murat hört zu und schüttelt den Kopf. »Jetzt wissen wir also, warum für sie der Blätterteigkuchen einmal Tatwaffe und einmal Gastgeschenk war«, sagt er und geht aus dem Zimmer.
      »Maria, kein groß' Stück, die andern woll'n auch noch essen.«
      Vassiliadis nähert sich dem Bett, er ergreift ihre Hand und macht noch einen Versuch: »Maria, hier ist Markos.«
      »Drei Tag nur Himmel und Meer.«
      »Ja, ich weiß. Drei Tage und Nächte seid ihr von Kerasounta nach Istanbul gefahren. Ich bin's, Markos. Markos Vassiliadis. Erkennst du mich, Maria?«
      Sie wendet ihm nur den Blick, nicht das Gesicht zu und sagt: »Süßes kleines Scheißerchen.«
      Ich sehe, wie Vassiliadis die Hände vors Gesicht schlägt und in Tränen ausbricht. »Das hat sie immer zu meiner Schwester gesagt, wenn sie ihr die Windeln wechselte«, sagt er zu mir. »Sie hat ihr die Händchen geküsst und zu ihr >Süßes kleines Scheißerchen< gesagt.«
      Er versucht die Tränen zurückzuhalten, doch es gelingt ihm nicht. Die Türkin blickt Maria an und wiegt den Kopf hin und her, wie es alle alten Frauen tun, wenn sie sich dem Schicksal gegenüber machtlos fühlen.
      »Wie ist es nur möglich, dass sie sich an all das erinnert?«, fragt mich Vassiliadis. »Sowohl an den pontischen Dialekt als auch an ihre Worte zu meiner Schwester, als sie noch ein Baby war, einfach an alles?«
      Ich klopfe ihm freundschaftlich, aber kommentarlos auf die Schulter. Ich will ihm nicht sagen, dass es sich vielleicht um das letzte Aufbäumen vor dem Tod handelt. Mein Vater hatte am Ende seines Lebens die Orientierung verloren. Er bat meine Mutter um Wasser, und als er es getrunken hatte, schimpfte er sie aus, dass sie ihm kein Wasser brachte. Ein paar Stunden vor dem Ende erinnerte er sich plötzlich an die Schlachten auf dem Vitsi-Massiv und dem Grammos und zählte die von ihm erlegten Kommunisten auf.
      Die Türkin geht auf Murat zu, bleibt neben ihm stehen und erklärt ihm etwas.
      »Was hat sie gesagt?«, frage ich ihn.
      »Sie hat mir gesagt, dass sie und ihr Mann, wenn wir es wünschen, für ein paar Tage zu ihrer Tochter nach Tirebolu gehen würden, damit Maria sich ganz zu Hause fühlen und von Vassiliadis betreut werden kann.«
      »In ihrem Zustand wäre es sicher besser, sie würde im Krankenhaus gepflegt«, sagt Vassiliadis, der den Vorschlag der Türkin gehört hat.
      Murat fasst ihn am Oberarm und führt ihn aus dem Zimmer. Ich bleibe mit Maria allein zurück. Sie hat ihren Blick wieder starr auf die Wand gerichtet. Bei ihrem Anblick frage ich mich, wo dieser spindeldürre Leib die Energie hergenommen hat, in ganz Istanbul herumzustreifen, Käsepittas zuzubereiten, vier Menschen zu töten und uns immer einen Schritt voraus zu sein? Es ist, als hätte sie ihre Kräfte haargenau eingeteilt, so dass sie gerade noch ausreichten, um in ihr altes Bett zu finden und dort zusammenzubrechen.
      »Maria, tu die Händ' weg von der Pitta! Maria, tu die Händ' weg von der Pitta!«
      Murat und Vassiliadis kehren ins Zimmer zurück. »In Ordnung, ich bleibe hier in Kerasounta, im Hotel«, sagt Vassiliadis. »Aber die Leute sollen hierbleiben. Sie haben schon genug Opfer gebracht.«
      Dazu äußere ich mich nicht. Mir ist klar, dass Murat ihn dazu gebracht hat, seine Meinung zu ändern. Ich werfe einen letzten Blick auf Maria, die wieder von einem Hustenanfall gequält wird, und trete aus dem Zimmer.
      »Was haben Sie zu Vassiliadis gesagt?«, frage ich Murat.
      »Ich habe ihn gefragt, ob er sich das mit dem Krankenhaus gut überlegt hat, denn dort würde Maria Tag und Nacht von einem Polizeibeamten bewacht. Und wie sich wohl die Ärzte und Schwestern ihr gegenüber verhalten würden, wenn sie erfahren, was sie getan hat. Und ob es keine schönere Art und Weise für einen Menschen gäbe, seine letzten
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