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Korona

Korona

Titel: Korona
Autoren: Thomas Thiemeyer
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anzustoßen. Morgen schon würde es zurück nach London gehen, wo ihnen ein Jahr Schwerstarbeit bevorstand. Vermutlich würden sie einander kaum noch zu Gesicht bekommen, kaum noch Zeit miteinander verbringen. Danach würde jeder von ihnen dem Ruf seines Schicksals folgen. Forschung, Bildung, Wirtschaft, die Möglichkeiten waren für jemanden mit ihrer Qualifikation unbegrenzt. Sie würden ein Leben auf der Überholspur führen.
    Matthew blickte in die Nacht hinaus. Draußen flogen die Lichter einer Tankstelle vorbei. »He, Will, mach mal ’n bisschen langsamer.« Er zündete eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Wir haben’s doch nicht eilig. Jackie wird seinen Laden schon nicht dichtmachen. Nicht ehe wir mit ihm angestoßen haben. Er hat’s versprochen.«
    William, der Fahrer, stieß ein unwilliges Grunzen aus, streckte seinen Arm aus und ließ sich von Hazel die Flasche Tullamore Dew nach vorn reichen. Ohne seinen Blick von der Straße abzuwenden, nahm er einen Schluck. Matthew drehte die Scheibe herunter und warf das Streichholz hinaus. Ein eiskalter Wind pfiff ihm ins Gesicht.
    »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Da vorn kommt schon Rathgar. Ich hab keine Lust, Scherereien zu bekommen. Nicht am letzten Tag.«
    William tat so, als höre er nichts, drehte den Lautstärkeregler hoch und begann, den Refrain des Songs ebenso lautstark wie falsch mitzusingen:
    »And the caravan is painted red and white
    That means everybody’s staying overnight
    Barefoot gypsy player round the campfire sing and play
    And a woman tells us of her ways.
    Everybody sings la, la, la, la.«
    »Scheiße, Will …«
    »Was denn?«
    »Fuß vom Gas!«
    »Verdammt, was hast du denn für’n Problem?«
    »Ich meine es ernst.«
    Will schien eine Weile zu überlegen, dann sagte er: »Sorry, Mann, aber das kann ich nicht tun.«
    »Was redest du da? Wieso nicht?«
    »Schon mal was von Relativitätstheorie gehört?«
    »Willst du mich verarschen?«
    »Sieh mal nach vorn.«
    Vom Lichtkegel der Doppelscheinwerfer erhellt, kam eine Fußgängerbrücke in Sicht. Mit affenartiger Geschwindigkeit rauschte sie heran und zischte dann über ihre Köpfe hinweg.
    »Haste das gesehen?«
    »Nichts hab ich gesehen. Du bist viel zu schnell.«
    »Jetzt stell dich nicht so an. Schau nach vorn.«
    »Was soll der Blödsinn, Will?«
    »Hey, sieh doch nur. Nicht
wir
fahren auf die Brücke zu, die Brücke kommt auf
uns
zu. Da kommt schon wieder eine.« Der Stahlträger einer weiteren Brücke tauchte vor ihnen in der Dunkelheit auf und sauste wie ein gewaltiges rostiges Schwert an ihrer rechten Seite vorbei. Will brach in Jubelgeschrei aus. Mit einem Grinsen im Gesicht nahm er einen weiteren Schluck.
    »Du bist ja bescheuert.«
    »Es ist dieser Wagen«, rief Will. »Diese gottverdammte, chromglänzende Granate. Das schnellste Auto, das ich je unterm Hintern hatte.«
    »Vermutlich auch dein letztes«, raunte Matthew ungehalten, doch William hörte gar nicht zu. Er war wie in einem Rausch. Mit einer fließenden Bewegung strich er die Lederhandschuhe glatt, die seine Hände wie eine zweite Haut umspannten. Er behauptete, dass sie ihm das Aussehen eines Rennfahrers verliehen. Matthew fand das einfach nur lächerlich.
    »Ab einer bestimmten Geschwindigkeit bist nicht mehr du es, der sich auf die Dinge zubewegt«, sagte William. »Die Dinge kommen auf
dich
zu. Das ist der wahre Kern der Relativitätstheorie. Das ist es, was Einstein uns zu erklären versucht hat, wusstest du das nicht?«
    »Alles, was ich weiß, ist, dass du zu viel getrunken hast. Vielleicht solltest du mich lieber ans Steuer lassen.«
    »Träum weiter.«
    »Ja, komm schon.« Hazel rutschte nach vorn. Ihre Stimme war sinnlich und dunkel. Auch sie hatte schon mächtig geladen. »Lass Matt fahren. Er hat von uns allen am wenigsten getrunken. Außerdem ist er der Vernünftigste. Nicht wahr, Matt?« Sie strich ihm mit dem Handrücken über den Hals. »Immer vernünftig, immer so kontrolliert.« Sie küsste ihn auf die Wange. Als er sich überrascht zu ihr umdrehte, lachte sie auf. Er konnte es nicht verhindern, aber er fühlte, dass er rot wurde. Als sie das sah, rückte sie wieder vor. »Hat dir das gefallen?« Sie strich mit der Zungenspitze über ihre Lippen. »Möchtest du mehr?«
    »Ach, lass mich doch in Ruhe.«
    »Sei doch nicht so schüchtern, Matt. Komm schon: Gib mir einen Kuss. Diesmal einen richtigen, mit Zunge.« Sie leckte über ihre Lippen. Matthew versuchte, sie zu
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