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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nicht direkt gesetzeswidrig. Sie sah nur so klein und verhutzelt aus auf dem Sitz, und jedes Mal, wenn der Traktor wendete, neigte sich ihr Oberkörper so weit zur Seite, dass wir Angst hatten, sie könnte herunterfallen.
    Sie ist nicht gefallen, und es gibt auch keinen Grund zur Klage. Der Garten ist jetzt vollkommen eben und tadellos. Und Frau Larsen ist weder auf abgesägte Köpfe noch auf begrabene Eltern gestoßen, jedenfalls hat sie nichts davon erzählt. Aber sie müssen alle drei dort unten liegen, da bin ich sicher. Sie liegen nur tiefer. In gewisser Hinsicht ist der Garten zum Friedhof einer kleinen Familie geworden, aber nur ich weiß davon. Es fällt nicht leicht, das alles für mich zu behalten. Aber ein Geheimnis bewahren zu können, gehört vermutlich zum Erwachsenwerden dazu.
    Mir geht es gut, nachts schlafe ich ausgezeichnet. »Ich habe das Gefühl, die alte Emilie ist wieder da«, sagt Mutter, und ich widerspreche ihr nicht. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass ich wieder ganz dieselbe werden kann. Und ich glaube, Mutter spürt es auch.
    Ich habe ziemlich viel Zeit mit Jacob verbracht ‒ am Anfang, um sicherzugehen, dass er uns nicht verrät. Hat er nicht. Ob er wirklich glaubt, die Geschichte mit Anders und der Motorsäge sei ein Traum gewesen, weiß ich nicht. Aber er hat verstanden, dass wir darüber nicht reden. Anders ist in die Stadt gefahren, darauf haben wir uns geeinigt, und vermutlich studiert er irgendetwas an der Universität oder hat eine Gärtnerlehre begonnen. Seine Eltern sind auf dem Meer verunglückt, das ist jetzt mehr als zwei Jahre her, Friede sei mit ihnen.
    Wenn ich Jacob zu Bett bringe, möchte er oft noch einmal mit mir darüber sprechen, was an dem Wochenende geschah, als Mutter ins Wellnesscenter gefahren ist. Sind die Kletterbären im Fernsehen auch nur ein Traum gewesen? Nein, sage ich dann. Und dass er mitten in der Sendung über die Kletterbären eingeschlafen ist – und Anders nicht dabei war. Wir haben ihn das letzte Mal gesehen, als Vater ihn rausgeschmissen hat.
    »Aber er ist nachts in dein Fenster geklettert«, sagt Jacob. »Ich habe euch doch in deinem Zimmer gehört.«
    »Nur reden wir darüber mit niemandem, das ist mein kleines Geheimnis«, flüstere ich.
    Es ist etwas verwirrend, ich weiß, und nach ein paar Tagen müssen wir alles noch einmal durchsprechen. Jacob geht es gut, so ist es nicht. Jedenfalls ist es gut, dass er nicht eingewiesen wurde, das wäre wirklich schlimm für ihn gewesen, denke ich. Am besten geht es ihm hier zu Hause bei uns. Deshalb bereue ich nichts. Aber im Gegensatz zu früher ist er weitaus stiller geworden. Mutter meint, er sei umgänglicher, und es hat den Anschein, als würde er mehr darüber nachdenken, was er sagt und tut. Er hat auch nicht mehr so viele Albträume, und wenn, dann kommt er allein damit zurecht. Jacob weint nicht mehr, sondern setzt sich nur im Bett auf und starrt in die Luft. Manchmal hält er die Hand vor den Mund und beißt sich in den Handrücken. Nach einer Weile legt er sich dann wieder hin und schläft weiter. Ich weiß es, weil ich es eines Abends mal gesehen habe, als ich vor seinem Fenster stand und hineinsah. Abends gehe ich gern ein bisschen spazieren, und oft spaziere ich um unser Haus und schaue in die Fenster. Es klingt vielleicht eigenartig, aber es ist schön, alles gleichsam von außen zu betrachten, ein paarSchritte zurückzutreten und ab und an nur Zuschauer zu sein. Dann habe ich das Gefühl, dass ich im Grunde genommen mit all dem nichts zu tun habe und mich jetzt an einem ganz anderen Ort befinde. Apropos an einem anderen Ort ‒ eigentlich war es ja so gedacht, dass ich zu Vater ziehen sollte, aber das eilt nicht. Er kommt immer häufiger zu Besuch und übernachtet ein paar Mal in der Woche bei uns. Meine Eltern sind wieder richtig glücklich miteinander, das ist offensichtlich. Ich weiß nicht, was sie sich vorstellen, aber ich hoffe, dass sie es wissen. Jacob beschäftigt diese Frage natürlich sehr.
    »Kommt Papa zu uns zurück?«, fragt er mehrfach täglich.
    Aber Mutter gibt ihm keine klare Antwort, vielleicht weiß sie es selbst nicht. Sie sagt, sie seien nur Freunde, und wir müssten abwarten. Aber ich denke, ich weiß, was sie will. Und wenn sie es wirklich ernst meinen, ist das für mich in Ordnung. Allerdings muss ich insgeheim schon über meine Eltern schmunzeln. Vielleicht weil ich etwas weiß, wovon sie nichts wissen, und dass alles anders aussähe, wenn ich eines
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