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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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herumgesprochen und es gibt einige, die mich zu Hause besuchen möchten, auch Amalie. Nun ist es plötzlich nicht mehr so weit, außerdem könne man sich im Zug ja unterhalten, sagt sie. Jedenfalls fahren wir zusammen nach Hause. Und es dauert nicht lange, bis Amalie fragt, wo der Waldgeist gewohnt hätte.
    Ich zeige ihr das Gästezimmer, aber das will sie nicht sehen. Wo hat er gewohnt, als er zurückkam, nachdem dein Vater ihn rausgeschmissen hat? Und wo hat er gewohnt, bevor ihr ihn eingeladen habt? Er hatte doch sicher einen Zufluchtsort im Garten? Ich nehme sie mit in den Garten und zeige ihr die größte Höhle. Sie will nicht glauben, dass er hier gelebt hat. Und schon gar nicht im Winter, das wäre doch viel zu kalt. Wieder fängt sie damit an, dass er nachts wahrscheinlich bei meiner Mutter untergeschlüpft ist ‒ es irritiert mich. Ich erzähle ihr, dass es unter dem alten Haus noch einen Keller gegeben hat, der inzwischen zugeschüttet wurde. Es hat unter der Erde verborgene Räume, in denen er sich aufhielt und in denen wir uns getroffen haben.
    »Hattet ihr dort Sex?«
    Ich mag Amalies direkte Art nicht, behaupte aber, dort hätten wir unser Liebesnest gehabt. Und die Augen meiner Freundin strahlen, genau so etwas will sie hören.
    »Jetzt kommt es heraus. Ein Liebesnest, ja, natürlich. In einer Ruine unter der Erde, wie romantisch.«
    »Das darfst du auf keinen Fall meiner Mutter erzählen, sie ist wahnsinnig eifersüchtig.«
    »Nein, natürlich nicht. Wo ist er jetzt?«
    »In der Stadt. Und ich habe nicht vor, ihn zu besuchen.«
    »Warum denn nicht?«
    »Ich habe einfach keine Lust, und du erzählst es niemandem.«
    Amalie verspricht es hoch und heilig, aber es fällt ihr schwer, ein Geheimnis zu bewahren. An diesem Punkt bin ich einfach weiter als sie. Ich bin sicher, dass sie es ihrem großen Bruder erzählt hat. Denn es dauert nicht lange, bis er mir Liebesgrüße aufs Handy sendet. Er geht jetzt aufs Gymnasium, aber das liegt genau gegenüber unserer Schule, und nach dem Unterricht wartet er oft auf mich. Dann bringt er mich zum Zug, aber wir gehen langsam, und ein paar Mal musste ich auch schon den späteren Zug nehmen. Er sagt es nicht so direkt, aber ich spüre, dass seine kleine Schwester ihm etwas von meiner Sommerliebe erzählt hat. Ganz offensichtlich hält er mich nicht mehr für so klein und unerfahren, und das bin ich ja auch nicht.
    Wir fangen wieder an zu knutschen. Er sagt, ich würde gut küssen, ob ich geübt hätte? Schon möglich, erwidere ich. Er aber nicht. Ich versuche, ihm ein paar Tricks beizubringen. Er ist sehr nett, aber längst nicht so, wie ich ihn mir vor den Ferien erträumt hatte.
    Von anderen höre ich, dass er behauptet, wir würden zusammen gehen. Ich weiß es nicht. Ich lasse ihn reden, es kann nicht schaden. Die anderen Jungen haben nun auch ein Auge auf mich geworfen, denn immerhin ist man als Freundin von Amalies großem Bruder nicht irgendwer. Mich lässt das jedoch kalt, ich küsse auch andere.
    Mein Kunstlehrer hat meine Collage in der Klasse aufgehängt. Dieses Mal lacht niemand. Im Gegenteil, viele sagen, sie sei wirklich unheimlich und noch mehr gothic als meine früherenBilder. Merkwürdig ‒ vielleicht weil sie der Wirklichkeit näher kommt? Aber die Wirklichkeit kann durchaus gothic sein, sagt mein Lehrer.
    Wenn mich jemand fragt, woher ich die Inspiration habe, zum Beispiel bei den abgehackten Köpfen, antworte ich nicht. Ich antworte nur, wenn ich will. Stellt mir jemand eine Frage, die ich nicht mag, schaue ich ihm in die Augen und sage nichts. Das ist ja auch eine Art Antwort. Dann weiß man, dass ich durchaus etwas erzählen könnte, aber nicht will. Das einzige Problem ist, dass die Fragen dadurch nicht weniger werden.
    Man sollte meinen, dass ich mich zu Hause entspannen könnte. Aber plötzlich will Mutter ›ernsthaft‹ mit mir reden. Es ist unglaublich, wie interessant ich geworden bin. Wir setzen uns in die Küche und sie will wissen, ob ich ihr etwas verheimliche. Sie fühlt, dass ich etwas verberge, und vielleicht ist es besser, wenn ich es erzähle. Ich bekomme Herzklopfen, denn ich habe Angst, dass sie irgendeinen Beweis gefunden hat. Aber so konkret ist es zum Glück nicht.
    »Erinnerst du dich an den Artikel über häusliche Gewalt, den ich schreiben sollte«, beginnt sie. Natürlich erinnere ich mich, inzwischen wurde er auch in einer Zeitung nachgedruckt, die seit mehreren Wochen auf ihrem Schreibtisch liegt.
    »Was ist
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