Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
einmal hören, was ich zu sagen habe! Aber nicht nur deswegen werde ich ihr erst recht nichts erzählen. Allerdings ist es seltsam, dass sie plötzlich solche Angst bekommt und von nichts wissen will.
    Mir kommt der Gedanke, dass sie möglicherweise bereits alles weiß. Sie hat ja das eine oder andere gehört und gesehen, als sie auf allen vieren bei uns auf dem Boden lag und die Dielenritzen mit der Ölkanne schmierte. Zwei und zwei wird sie zusammenzählen können. Vielleicht hat sie auch etwas gesehen, als sie den Garten planierte. Das Bein des Vaters zum Beispiel, das irgendwo zwischen den Büschen aus dem Boden ragte. Aber statt Alarm zu schlagen, hat sie es wieder eingegraben. Sie konnte Anders nicht leiden, sonst hätte sie nicht mit dem Kleinkalibergewehr auf ihn geschossen. Vielleicht hielt sie auch nicht viel von seinen Eltern. Natürlich könnte es auch sein, dass sie an mich denkt und mich beschützen will. Oder macht sie sich nur Sorgen um ihr Haus? Wenn herauskommt, was hier passiert ist, wird es nicht leicht zu vermieten sein.
    Ein paar Tage später kommt Henriette zu Besuch. Es überrascht mich nicht. Am späten Abend klopft sie ohne besonderen Grund an meine Tür. Ich weiß genau, worauf sie aus ist. Sie will etwas über Anders von mir erfahren, und es würde mich nicht wundern, wenn Mutter sie dazu angestiftet hat. Mädchen im Teenageralter vertrauen sich nicht gern ihren Eltern an, habe ich Henriette sagen hören, als Mutter sich über meine Geheimniskrämerei beklagte. Aber es könnte ja sein, dass die Freundin der Mutter mehr Glück hat. Hat sie aber nicht. Henriette fragt nach der Schule und bewundert meine Bilder an der Wand, dann fängt sie an, über Beziehungen zu reden. Ob ich schon mal verliebt gewesen bin? Ich sage Nein, und sie geht einen Schritt weiter und fragt, wie nah Anders und ich uns gekommen sind. Soweit sie es verstanden hat, waren wir Freunde, aber möglicherweise auch mehr? Sie mag mich nicht direkt fragen, ob wir eine sexuelle Beziehung hatten, aber genau das will sie wissen. Sie hätte es sich ersparen können. Ich entscheide selbst, wem ich derart intime Dinge anvertraue. Henriette ist ziemlich aufdringlich, und ich sehe mich gezwungen, ihr Einhalt zu gebieten ‒ bis hierher und nicht weiter.
    »Henriette, das geht dich gar nichts an«, sage ich. Kurz und bündig. Und es funktioniert, sie entschuldigt sich und wechselt das Thema; kurz darauf geht sie zurück zu Mutter.
    Hinterher habe ich fast ein schlechtes Gewissen, weil ich so hart geblieben bin, aber das geht vorbei. Es gelingt mir immer besser, Grenzen zu ziehen. Es ist schwer, denn man muss die richtige Balance finden. Ich will nicht wie Anders enden, der seine Eltern eingesperrt und ausgepeitscht hat. Aber man darf sich seine Wut auch nicht verkneifen und alles in sich hineinfressen, wie ich es vor den Sommerferien getan habe.
    Als Henriette aufgebrochen ist und wir bereits im Bett liegen, höre ich Vaters Wagen in der Einfahrt. Er macht die Haustür selbst auf, offenbar hat er inzwischen einen Schlüssel. Und er legt sich nicht ins Gästezimmer, sondern geht die Treppe hinauf zu Mutter. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Nicht weil ich ihnen nicht gönne, dass sie wieder zusammen sind, aber dieses Aufwärmen einer früheren Liebe kommt mir falsch vor. Sie haben einfach nichts kapiert ‒ es wird niemals wieder so, wie es einmal gewesen ist.
    Vater und Mutter schlafen lange, länger als ich, und das will etwas heißen. Als sie endlich aufgestanden sind, unternehmen sie eine längere Autofahrt, ohne uns. Nachmittags bereiten sie irgendetwas in der Küche vor. Ich ahne, was jetzt passiert. Es ist Samstag, und an einem Samstag haben wir erfahren, dass sie sich scheiden lassen wollen. Als sie dann herausfanden, dass es nicht so ohne weiteres möglich ist, haben sie uns das auch an einem Samstag erzählt. Und nun ist es wieder Samstag, und Jacob und ich werden ins Wohnzimmer gerufen, weil sie gern mit uns reden wollen, über etwas Wichtiges. Aber sie betonen, es sei etwas Schönes. Ich finde, das zu beurteilen, könnten sie durchaus uns überlassen.
    Diesmal werden Milchshakes mit frisch gepflückten Brombeeren serviert, die sie im Wald gesammelt haben. Während wir trinken, berichten sie ganz ruhig, dass sie ihrer Ehe eine zweite Chance geben wollen. Die Scheidung ist nicht nur ausgesetzt, sie ist abgesagt.
    Jacob ist überglücklich, genau das hatte er sich immer gewünscht. Ich bin skeptischer. Eigentlich kann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher