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Kopernikus 9

Kopernikus 9

Titel: Kopernikus 9
Autoren: H. J. Alpers
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denken.
    Endlich hielt er es vor Kälte nicht länger aus, öffnete die Tür und ging ins Haus. Seine Mutter saß weinend im Wohnzimmer. Tommy blieb im Türbogen stehen und sah sie an. Sie war zerknittert und niedergedrückt, und ihr Weinen klang verzweifelt und ratlos, als wäre sie völlig geschlagen. Aber das war nichts Neues – sie war geschlagen gewesen, so weit Tommy zurückdenken konnte. Der Zeitpunkt ihrer Kapitulation, ihrer völligen Selbstaufgabe, lag schon viele Jahre zurück, wahrscheinlich noch vor Tommys Geburt. Ihr Mann hatte sie mit seinem stärkeren Willen so gründlich, so unermüdlich seelisch geschlagen, daß sie irgendwann das Gerüst ihrer Knochen und das Hirn verloren hatte – es war herausgefallen, und sie war zu einer Qualle geworden. Sie hatte einen endgültigen Kompromiß zuviel geschlossen, mit sich selbst, mit ihrem Mann und mit einer Welt, die zu komplex für sie war, und sie hatte ihre Autonomie verkauft. Und sie stellte fest, daß es ihr gefiel. Es war leichter nachzugeben, Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen und ihrem Mann zuzustimmen, der sie für dumm und inkompetent hielt. In seinen Erinnerungen sah Tommy sie immer nur weinend, händeringend und nach all den Jahren so abgeschliffen, daß jetzt kaum noch etwas von ihr übrig war. Ihr Weinen klang matt und dünn im Zimmer, es hallte kaum noch wider von Wänden, die getränkt waren mit den Tränen eines Jahrzehnts. Tommy mußte plötzlich daran denken, wie sie ihm einmal erzählt hatte, daß sie als kleines Mädchen auf einer Wiese im Sonnenschein eine Fee oder einen Kobold gesehen hatte, und er erinnerte sich, daß er sie dafür geliebt hatte und ihr beinahe von den Anderen Leuten erzählt hätte. Er trat zaghaft einen Schritt vor. „Mama“, sagte er dabei leise.
    Sie sah auf und blinzelte ihn durch ihre Tränen hindurch an. Sie schien überhaupt nicht überrascht zu sein, ihn dort stehen zu sehen. „Warum hast du das getan? Warum bist du so ungezogen?“ sagte sie mit einer Stimme, die hysterisch anklagend klingen sollte, statt dessen aber stumpf, flach und resignierend war. „Weißt du, was die Schule mir sagen wird? Was dein Vater sagen wird? Was er tun wird?“ Sie zupfte mit nervösen Fingern an ihren Wangen herum. „Wie kannst du mir so etwas antun? Nach allem, was ich für dich geopfert habe und was ich gelitten habe.“
    Tommy hatte das Gefühl, daß jemand seinen Kopf mit einem Schraubstock umklammerte und preßte und preßte, bis ihm die Augäpfel aus den Höhlen drangen. „Das halte ich nicht aus!“ schrie er. „Ich gehe, ich gehe! Ich laufe weg! Sofort!“ Daraufhin weinte sie nur noch lauter und flehte ihn an, nicht zu gehen. Durch all seine Wut und seinen Schmerz hindurch empfand Tommy plötzlich einen intensiven Ärger – sie mußte doch wissen, daß er nicht wirklich weglaufen konnte. Wohin zum Teufel sollte er denn gehen? Sie hätte lachen sollen, sie hätte ihm verächtlich befehlen sollen, mit dem Unsinn aufzuhören – er hatte sich gewünscht, daß sie es täte –, aber statt dessen mußte sie weinen, sie bettelte und griff nach ihm, mit schwachen, flatternden Händen, die wie sterbende Vögel waren und die ihn forttrieben wie Peitschenhiebe und ihm nur noch die alberne Möglichkeit des Weglaufens ließen. Er riß sich los und rannte in die Küche. Etwas Bitteres, Würgendes ballte sich in seiner Kehle. Sie rief ihm nach, und er wußte, daß er ihr jetzt weh tat, und er wollte ihr weh tun und schämte sich zugleich verzweifelt dafür. Aber es war so leicht, ihr weh zu tun.
    In der Küche blieb er stehen, und statt durch die Hintertür hinauszulaufen, duckte er sich in die schmale Lücke zwischen dem großen Kühlschrank und der Wand. Er wollte, daß sie ihn fand, daß sie ihn einfing, denn er hatte das deutliche Gefühl, wenn er einmal hinausginge, würde er nie wieder zurückkommen, jedenfalls nicht als er selbst. Aber sie fand ihn nicht. Sie kam in die Küche, immer noch weinend, und sie stand eine Weile an der Hintertür und schaute hinaus, als wollte sie auf die Straße laufen und nach ihm suchen. Einmal öffnete sie sogar die Tür und steckte den Kopf hinaus. Sie blinzelte in die Welt, als wäre sie etwas, das sie noch nie gesehen hatte, aber sie schaute sich nicht in der Küche um, und sie fand ihn nicht, und rufen würde er sie nicht. Er kauerte in der engen Nische, wo es nach Staub roch, betrachtete die mumifizierten Fliegenleichen, die auf den Kühlrippen lagen, und hörte, wie sie wenige
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