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Kopernikus 9

Kopernikus 9

Titel: Kopernikus 9
Autoren: H. J. Alpers
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schweißgebadet, als wäre er gerannt, und er zitterte. Nach diesem Erlebnis war er physisch nicht mehr in der Lage, im Haus zu bleiben. Er ging ins Bad, wischte sich mit dem Gästehandtuch den Schweiß ab, holte seinen Mantel und trat ins Freie.
    Es war ein ungewöhnlich kalter Morgen, und Tommy sah, wie sein Atem in wolkigen Arabesken dampfte, während er lief. Ein Teil der Feuchtigkeit gefror auf seinen Lippen und bildete eine Kruste. Es war nicht einfach ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit, es war unnatürlich, beinahe übernatürlich kalt. Im Wetterbericht beim Frühstück hatten sie darüber gesprochen, und es hieß, daß die Meteorologen verblüfft über diesen plötzlichen Zustrom von arktischer Luft seien, die sich wie eine Decke über den größten Teil des Landes gelegt hatte. Tommy folgte einem Aschenweg, der an einer Schutthalde vorüberführte, und sah, daß es so kalt war, daß der Süßwassermorast dahinter, der sich zu Füßen der Kokerei erstreckte, vereist war. Er trat hinaus auf das frische, milchige Eis, ging zwischen dem winterstarren Schilf und den Weiden, die zu beiden Seiten aufragten, hindurch und beobachtete, wie das dünne Eis unter seinen Füßen sprang. Sternförmige, spinnennetzartige Risse entstanden bei jedem Schritt – es sah gefährlich aus, aber er brach nie wirklich durch. Es war sehr still. Er erreichte die andere Seite des Moorgeländes, und die beiden großen Kühltürme der Kokerei standen jetzt wie winzige Metallzylinder über dem Horizont. Das Land hier war von Buschwerk bedeckt; es war noch nicht der Wald, aber die Industrie hatte es auch noch nicht in Besitz genommen. Schrottautos wurden hier manchmal abgestellt, und hier und da ragten die rostigen Gerippe aus dem hohen Gras, die Windschutzscheibe von Kindern zertrümmert, die Türen halb aus den Angeln gerissen und traurig zu beiden Seiten herabhängend wie gebrochene Flügel. Eine dicke Schicht von Rauhreif lag glitzernd über allem, obgleich die Sonne mittlerweile hoch am Himmel stand. Ein oval geformter, von Espen bestandener Hügel ragte mitten in dieser wehmütigen Einöde empor – ein Drumlin, den das Eis hier zurückgelassen hatte.
    Dies war eine „Stelle“, und hoffnungsvoll ließ Tommy sich am Hang des Hügels nieder und wartete. Er hatte die Anderen Leute im Laufe des Vormittags schon ein paarmal gehört, wie sie sich rastlos in der Ferne bewegten, aber gesehen hatte er sie noch nicht. Etwas Ungeduldiges, Erwartungsvolles schien heute in ihrer Unruhe zu liegen; es war nicht wie die planlose Unrast, die am Mittwoch geherrscht hatte – sie warteten auf etwas, und sie wußten, daß es geschehen würde.
    Tommy wartete fast eine Stunde, aber der Thant kam nicht. Jetzt beunruhigte ihn das mehr als beim ersten Mal. Die Welt der Anderen Leute war heute sehr nah – diese seltsame, gleichzeitig existierende Welt, hier und zugleich doch nicht hier. Manchmal konnte Tommy die Dinge fast so sehen, wie die Anderen Leute sie sahen. Eine überwältigende Fremdartigkeit drang dann in seine vertraute Welt, ein Film legte sich über die Realität, und dann, nach einem winzigen Moment des Übergangs, war diese Fremdartigkeit mit einem Mal behaglich und vertraut, und seine eigene, ehemalige Welt war der spukhafte, unwirkliche Film, der über der Realität lag. Dies geschah mehrere Male, während er wartete; immer wieder versank er in jener anderen Wahrnehmung, wie ein Taucher, der sich unter die Wasseroberfläche sinken ließ und dann wieder auftauchte. Er war „unter der Oberfläche“, als plötzlich eine ungeheure Bewegung durch die Welt der Anderen Leute fuhr, ein Ausbruch überschäumender Freude, eine gewaltige, gigantische Fröhlichkeit. Es war überwältigend, unerträglich, und Tommy riß sich selbst zurück in die normale Wahrnehmung, durchbrach die Oberfläche und sah wieder den Himmel, die Espen und das wellige Buschland. Aber selbst hier noch hörte er das wilde, rauhe Heulen, den fanatischen Schrei, der zum Himmel stieg. Die „Stelle“ war erfüllt von rasendem, triumphierendem Gelächter.
    Zu Tode erschrocken sprang er auf und rannte nach Hause.
    Als er ankam, klingelte eben wieder das Telefon. Tommy blieb draußen stehen und sah, wie die Silhouette seiner Mutter sich hinter der Wohnzimmergardine bewegte. Sie war vom Einkaufen zurück. Das Telefon verstummte mitten im Klingeln. Sie hatte abgehoben. Schwer wie Blei ließ Tommy sich auf die Treppenstufen sinken. Lange Zeit saß er so da, ohne an etwas zu
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