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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt
Autoren: David Albahari
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Lastwagen standen schon bereit, und man musste die Dunkelheit nützen. Allerdings, erinnerte sich der Kommandant jetzt, habe er einen Umschlag mit einer Landkarte und den Listen der Soldaten, der Waffen und der Ausrüstung bekommen. Die Listen seien voller Fehler, sagte der Kommandant, und er habe schon eine Liste der in den Listen fehlenden Dinge angefertigt, und auch die Landkarte sei nicht korrekt oder sie beziehe sich auf eine andere Zeit, wir hätten uns doch selbst davon überzeugen können aufgrund von Mladens Bericht und den Erzählungen der Soldaten, die Häuser dort gesehen hätten, wo sich nach der Landkarte, die er bekommen hatte, ein Stausee befinden sollte. Der Kommandant sah aus, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen, aber obwohl er uns leidtat, wussten wir nicht, wie wir ihm helfen sollten. Vielleicht sei der Wald verzaubert, vermutete jemand, und wir bildeten uns nur ein, dass all das geschehe, was uns geschah. Wer glaube denn noch an Zauber, fragten manche, obwohl niemand die Möglichkeit ausschloss, dass dieser mit halluzinogenen Mitteln zu erreichen wäre. Andererseits konnten Drogen nicht den Zauberstab von Feen ersetzen, das stand außer jedem Zweifel. Seit wir an diesem Kontrollpunkt angekommen seien, sagte der Kommandant, tue er nichts anderes, als Listen zu vergleichen und neue zu erstellen. Alles wimmele von Fehlern, sagte er, nicht nur die Listen, sondern die ganze Welt. Wohin wir auch griffen, fänden wir Fehler, vor allem wenn man uns versichere, es gebe keine Fehler. Deshalb wünsche er, sagte der Kommandant, dass die Liste, die er gestern angelegt habe, keine Fehler enthalte, vor allem hoffe er innig, dass sie kurz bleibe, obwohl er sich bewusst sei, dass niemand außer dem dort oben – er stockte und hob den Blick zum Himmel, und wir alle taten es ihm nach – im Voraus wisse, wie lang diese Liste werde. Inzwischen wussten wir natürlich alle, um was für eine Liste es sich handelte, so wie wir auch wussten, dass sie vier Namen enthielt: den des auf dem Klo getöteten Wachpostens, die der beiden Soldaten, die im Wald von Pfeilen getroffen worden waren, und schließlich den des Soldaten, der Mladen auf eigene Faust gefolgt war. Mit einem Mal herrschte Stille. Einerseits wollten wir den Opfern des Krieges, der wie jeder Krieg sinnlos war, Ehre erweisen, andererseits hoffte jeder von uns, der nächste Name auf der Liste werde nicht seiner sein. Wir schwiegen, schauten uns alle finster an, als seien wir einander die schlimmsten Feinde, aber was soll man von denen halten, die einen tot sehen wollen? Ich will nicht sterben, entfuhr es jemandem, wahrscheinlich ungewollt, und wir alle brachen in Lachen aus vor Freude, dass wir alle dasselbe empfanden. Niemand möchte sterben. Nicht einmal bei einem so hehren Unterfangen wie der Verteidigung der Heimat. Was wäre überhaupt hehr an einem gewaltsamen, frühen Tod? Das Dümmste dabei ist, dass später Menschen darüber diskutieren, die keine Erfahrung mit dem Gegenstand ihrer Diskussion haben, also mit dem Tod. Wie kann ein lebender Mensch einen toten verstehen, wie kann er wissen, was der von einer Kugel Getroffene in dem Augenblick denkt, in dem das Geschoss in sein Fleisch dringt, wie kann er die fieberhafte Eile des Körpers begreifen, sich zu schließen und so die Fähigkeit zu bewahren, die letzten Handlungen auszuführen, die zur unwillkürlichen Reaktion des menschlichen Organismus gehören, vor allem wenn es darum geht, die Seele in kosmische Höhen zu katapultieren? Ja, die Seelen werden wie Raketen katapultiert, aber nur diejenigen, die richtig und rechtzeitig auf diese Reise geschickt werden, gelangen an die dazu bestimmte Stelle, während die anderen, vor allem solche aus Körpern, die im Wahnwitz eines Krieges zugrunde gegangen sind, endlos durch die durchsichtigen und eisigen Tiefen des Weltalls wandern, aus der Bahn geworfenen Kometen, ausgedienten Satelliten, kleinen und großen Meteoriten und dem übrigen kosmischen Müll auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. In ihren dünnen, durchsichtigen Kleidern klappern diese Seelen leise mit den Zähnen, allerdings hat man schon vor langer Zeit beobachtet, dass in Zeiten globaler wie lokaler Befreiungs- oder Eroberungskriege die Zahl solcher Seelen sprunghaft ansteigt, so dass ihr Zähneklappern in den Sternwarten immer lauter zu hören ist, wo man dies als Sternenklimpern bezeichnet. Die Wissenschaft erkennt natürlich die Existenz von Seelen nicht an, zumal von solchen,
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