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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt
Autoren: David Albahari
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die wiederum nicht begriffen, dass wir die »Ihrigen« waren. Aber wer war der »Unsrige« in diesem Krieg, in dem wir nur ein Gastspiel gaben, und das ohne zu wissen, was wir eigentlich zu tun hatten? Wäre es da nicht am besten, zurückzukehren und alles zu vergessen? Nein, nein und nochmal nein, beharrte der Kommandant, eine Heimkehr komme nicht in Frage. Außerdem, wohin sollten wir überhaupt heimkehren und wie – habe sich jemand diese Frage schon mal gestellt? Die Telefone seien stumm, die Funkverbindung sei unterbrochen, Brieftauben besäßen wir nicht, und selbst wenn jemand dorthin gehen wolle, wo sich das Hauptquartier vermutlich befinde, welchen Weg solle er einschlagen? Und gebe es überhaupt einen Weg? Der Kommandant rief den Schriftführer herbei und diktierte ihm den Befehl für den nächsten Tag. Der sah vor, den ganzen Tag der Suche nach einem Ausweg aus dieser verteufelten Lage zu widmen, in die wir geraten waren. Das schuldeten wir unseren Opfern, sagte der Kommandant beim bescheidenen Abendbrot: Jeder Soldat bekam ein großes Brötchen und eine kleine Dose Ölsardinen. Während des Abendessens geschah noch etwas: Von Ohr zu Ohr kursierte die Nachricht, Angehörige der einen Erkundungsgruppe, und zwar nicht alle, sondern nur zwei von ihnen, hätten von einer Waldlichtung aus durch den Nebel in der Ferne einige Bauernhäuser gesehen. Einer schwor sogar, er habe Kühe muhen und Hunde bellen gehört. Es war noch früh, die Nebelschwaden waberten zwischen den Bäumen und über den Wiesen, aber aus dem Schornstein eines Hauses quoll schon Rauch, was hieß, dass die Hausbewohner aufgestanden waren, dass sie wahrscheinlich frühstückten und bald zu ihren verschiedenen morgendlichen Tätigkeiten das Haus verlassen würden. Die Soldaten – eben diese beiden – sahen sogar, wie die Haustür langsam aufging, aber dann erklang das Kommando zum Aufbruch, und sie mussten weiter. Sie versuchten dem Gruppenführer die Situation zu erläutern, er hörte sie an, lehnte es aber ab zurückzugehen. Er habe, erzählten die beiden Soldaten, behauptet, dies würde denen, die sie verfolgten – und sicher gebe es solche –, ermöglichen, sie zu überraschen und erbarmungslos anzugreifen. Man weiß nicht wie, aber der Kommandant erfuhr jedenfalls davon und zitierte die beiden Soldaten zu sich. Dem Zugführer, der sie zu ihm gebracht hatte, befahl er, sich zu entfernen, weil er nicht wünschte, dass etwas von dem Gespräch durchsickerte. Er befragte die Soldaten detailliert, wie die Häuser und Höfe ausgesehen hätten, skizzierte sogar mit schnellen Zügen ein Haus und fragte, ob es den Häusern ähnele, die sie trotz des Nebels bemerkt hätten, oder gerade wegen des Nebels, der durch sein Wirbeln ihre Aufmerksamkeit erregt habe. Nachdem die Soldaten über alles berichtet hatten, nahm der Kommandant, wie sie später erzählten, eine zusammengefaltete Landkarte aus der Schublade, legte seinen Kompass auf den Tisch und maß lange etwas mit einem alten Zirkel und einem Winkelmesser. Es bestehe natürlich die Möglichkeit, dass er sich irre, sagte er, aber vorausgesetzt, er irre sich nicht, dann befinde sich an der Stelle, an der die beiden Soldaten behaupteten, Häuser und Bauernhöfe gesehen zu haben, nichts, genauer gesagt – und dies sei sehr merkwürdig, sagte der Kommandant – hätten dort wirklich einmal solche Häuser gestanden, wie sie sie beschrieben, aber – da stockte er und blickte in die Ferne – diese ganze Gegend wurde überschwemmt, als etwas nördlicher ein Stausee für ein Wasserwerk gebaut wurde, das man, sagte der Kommandant, nie in Betrieb genommen habe. Seid ihr sicher, fragte er sie, aber jetzt vor der ganzen Kompanie, dass ihr das alles nicht unter Wasser gesehen habt, aber die Soldaten lehnten diese Möglichkeit wie aus einem Mund ab, und auf die suggestive Frage hin, ob es vielleicht eine Art Fata Morgana gegeben habe, brachen beide gleichzeitig in Lachen aus, als hätten sie sich den ganzen letzten Abend auf diesen gemeinsamen Auftritt vorbereitet. Dann sagte jemand: Mladen sollte hin, und sofort erschien dies allen als die beste Lösung. Mladen finde sich im Wald zurecht, er würde also wissen, wo und nach was er suchen solle. Etwas später entflammte eine Diskussion darüber, ob er alleine oder in Begleitung einiger Kameraden gehen solle, aber diese Diskussion unterbrach am Ende, genauer vor ihrem Ende, der Kommandant, indem er sagte, wir hätten keine Zeit für Haarspaltereien.
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