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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt
Autoren: David Albahari
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Reinemachen am nächsten Tag zu übernehmen hatten, die dann je nach Belieben »Klofrauen« beziehungsweise »Klomänner« genannt wurden. Die nächtlichen Gänge zur Verrichtung der Notdurft erinnern indes daran, dass man erklären sollte, was sich überhaupt nach Einbruch der Dunkelheit bei uns tat. Zunächst einmal hatten wir einige Gaslampen. Sie gehörten zur Standardausrüstung in den sogenannten schwach entwickelten Gebieten, also dort, wo man mit unregelmäßiger Versorgung mit elektrischem Strom und anderen Energiespendern rechnen musste. Jeder Soldat hatte auch eine Schachtel langsam brennender Kerzen bei sich, außerdem verfügten wir im Kompaniemagazin über einen ordentlichen Vorrat davon. Die Gaslampen und die großen Kerzen, deren Flammen in der nächtlichen Luft flimmerten, gaben ein romantisches Bild ab, und wer weiß, was jemand angesichts der vielen flackernden Lichter um die dunkle Baracke herum denken mochte. Solche, die das sahen, gab es womöglich mehr, als wir ahnten. Darin bestand der größte Unterschied zwischen uns und »ihnen«: Sie wussten immer mehr von uns als wir von ihnen, vor allem was die Mannschaftsstärke anging. Wie auch immer, am nächsten Morgen fanden wir einen toten Raben. Ein Fuß war gebrochen, die Flügel zerfetzt und der Schnabel herausgerissen. Die Soldaten standen empört um ihn herum und fluchten. Der tote Vogel regte sie mehr auf als der auf dem Klo ermordete Wachposten. Das sind keine Menschen, sagte ein Soldat, das sind Bestien, die man auf der Stelle erschlagen sollte! Auf der Stelle, auf der Stelle!, riefen andere Soldaten und drängten sich um den Kommandanten, der sehen wollte, was los war. Man zeigte ihm den Raben, aber er war offensichtlich weniger betroffen als seine Leute, denn er sagte unumwunden, sie sollten nicht albern sein. Unsere Männer sind im Wald, fügte der Kommandant hinzu, und solange sie nicht zurück sind, darf niemand dorthin gehen, ist das klar? Die Soldaten murmelten etwas, das wie Einverständnis klang, und kehrten zu ihren Aufgaben zurück. Die Sonne brannte erbarmungslos, was für die Jahreszeit ungewöhnlich war. Einige bekamen schnell eine dunkle Hautfarbe, andere wiederum Blasen auf dem Rücken, den Armen, den Schultern und auch im Gesicht. In dieser Nacht wird es nicht viel Schlaf geben, dachte der Kommandant gerade, da erklangen Rufe: Sie kommen! Als der Kommandant an die Schranke trat, konnte er sie tatsächlich sehen: Beide Trupps kamen den Weg zur Schranke hoch. Beide hatten offensichtlich je ein Opfer zu beklagen, denn in beiden trugen jeweils zwei Soldaten einen dritten. Die Steigung machte ihnen zu schaffen, so dass wir, selbst als sie noch ziemlich weit weg waren, ihren keuchenden Atem und gelegentliches Husten hören konnten. Fast im gleichen Moment erreichten sie die Schranke, und da stellte jemand fest, dass beide Gruppen oder eine irgendwo im Wald den Weg verloren haben mussten, da sie jetzt auf derselben Seite ankamen. Als man aber die Zurückgekehrten darauf aufmerksam machte, behaupteten sie steif und fest, ihre Wege hätten sich nicht gekreuzt, sie seien in keinem Augenblick unsicher gewesen, welchen Weg sie hätten einschlagen müssen. Im Wald herrschte immer Stille, sagte ein Soldat, und die haben wir respektiert. Wären wir der anderen Gruppe begegnet, hätte es sicher ein lautes Hallo gegeben. Das erklärt vielleicht, warum die beiden Soldaten mit einer altmodischen, aber wirksamen Waffe, nämlich mit Pfeilen getötet worden waren, deren Enden immer noch aus ihrer Brust ragten. Der Kommandant verhehlte seine Wut nicht, er fluchte verärgert, wobei er Ausdrücke gebrauchte, die eines großen Säufers und Lumpen würdig gewesen wären, obwohl sie ihm ganz bestimmt niemand übel nahm. Vielleicht wäre alles anders gewesen, hätten wir gewusst, warum wir eigentlich hier waren, was wir bewachten und vor wem. Welchen Zweck hatte ein Kontrollpunkt auf einem Weg, den niemand benutzte und der sich nach allem zu urteilen ohne Grund um sich selbst wand? Oder bestand sein wahrer Zweck darin, die Illusion zu wecken, dass man ihn passieren könne, dass man darauf zu neuen Siegen schreiten könne, wohingegen er in Wirklichkeit eine Falle, ein Lockvogel für Blauäugige, ein Seelentöter war, in dem man nicht an Luftmangel, sondern an zu viel Luft zugrunde ging. Oder war alles, wie ein Soldat treffend bemerkte, vielleicht nur deshalb so unwirklich, damit wir nicht dahinterkamen, dass wir von den »Unsrigen« angegriffen wurden,
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