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Kontrollpunkt

Kontrollpunkt

Titel: Kontrollpunkt
Autoren: David Albahari
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tatsächlich die Stimme von Mladen. Der Kommandant fragte sich, was der jetzt angestellt haben mochte, aber ihn wurmte eigentlich die Frage, was ihn in das provisorische Lager des Feindes getrieben hatte. Plötzlich erstarrt alles, alles ändert sich, alles wird anders, wir bleiben mutterseelenallein, denn alles bekommt eine andere Bedeutung, und die Welt verwandelt sich in einen Zerrspiegel, in dem nichts so erscheint, wie es ist, sondern wie es sein könnte. Der Kommandant blickte in diesen Spiegel und sah sich klein wie ein Frosch. Am liebsten würde er sich zertreten, dachte er und ergötzte sich an der Vorstellung, wie er aufplatzt, wie das Herz nach links fliegt, die Leber nach rechts und das Hirn geradeaus nach oben, da es – natürlich vergebens – nach den himmlischen Höhen strebt. Das Hirn kann man allenfalls paniert braten; das ist wohl das einzig Nützliche, was man mit ihm anstellen kann. Was sonst sollte man mit ihm tun, dachte der Kommandant, wenn es ihn nicht einmal rechtzeitig vor dem gewarnt hatte, was er auch ohne Hirn hätte kapieren müssen: dass Mladen die ganze Zeit ein doppeltes Spiel getrieben hatte und eigentlich ein feindlicher Spion war. Auf einmal bekam alles eine andere Bedeutung, das Unklare wurde klar, das Unerklärliche erklärlich, und an die Stelle des Unverständlichen trat das Verständliche. Mladens sämtliche Unternehmungen, seine triumphale Rückkehr nach Erledigung der Aufträge, die Gespräche, bei denen er sich eingehend nach den Plänen und Absichten des Kommandanten erkundigt hatte, die Leichtigkeit, mit der er behauptet hatte, es sei müßig, den vielen Tötungen von Soldaten am Kontrollpunkt nachzugehen, all dies wies auf eine andere Geschichte hin, in der Mladen die Hauptrolle spielte, und zwar die schlimmste, die Rolle des Schergen, der kein Erbarmen mit seinen Opfern kennt. Der Kommandant wusste natürlich, dass auch eine ganz andere Erklärung möglich war, nach der Mladen all das auf Befehl des höchsten Militärkommandos tun musste, um die Feinde von seiner Loyalität zu überzeugen. Das aber ließe sich leicht überprüfen. Er brauchte nur hinunterzuspringen und zu sehen, was Mladen tun würde, ihn töten oder ihn vor dem Feind retten. Aber wozu?, dachte der Kommandant, man sollte auch den Historikern etwas überlassen, diesen Schmarotzern, die die Geschichte so hinbiegen, wie sie, die selber nie ein Teil der Geschichte waren, es für richtig halten. Unten war etwas in Bewegung geraten, die Soldaten bereiteten sich zum Aufbruch vor, aber zunächst, das konnte der Kommandant sehen, verminten sie den Zugang zum Weg, der bergauf zu dem Haus führte. Sie legten auch einige Minen um eine Quelle, weswegen noch in derselben Nacht einige Waldtiere sterben würden und die Quelle am nächsten Morgen mit Teilen der verendeten Tiere zugedeckt sein würde. Menschen sollten später dran glauben. Der Kommandant, der sich noch nicht traute hinunterzuklettern, war nämlich inzwischen in der Baumkrone eingenickt und hatte verpasst, die wohl letzten zwei seiner Soldaten kommen zu sehen und sie vorzuwarnen. Sie traten auf die Minen, der Kommandant wurde aus einem Traum gerissen, in dem er gerade eine Käsepastete verspeiste, und wusste im ersten Moment nicht, was los war. Dann begriff er es, dachte aber dennoch zuerst an Mladen. Auf den sollte er etwas später stoßen auf dem Weg, den die feindlichen Soldaten und Panzer den Hang hinunter genommen hatten. Man hatte ihn nicht allzu lange mit sich geführt, so gab es einen Esser weniger, was im Augenblick das Wichtigste war. Der Kommandant bückte sich und untersuchte Mladens Jackentaschen. Jemand schien es vor ihm schon getan zu haben, denn außer einem alten Busfahrschein und einigen Münzen fand er nichts. Dann fiel ihm ein, in den Hosentaschen nachzusehen, und da fand er ein schwarzes Heft, in dem Mladen alle Begegnungen und Kontakte mit der gegnerischen Seite eingetragen hatte. Für uns war das ein wahrer Glücksfall, dadurch bekamen wir eine Liste der Leute in die Hand, die hinter unserem Rücken daran gearbeitet hatten, uns vom Erdboden verschwinden zu lassen. Am Ende ergeht es allen so wie Mladen, das war die schreckliche Wahrheit, weswegen man nicht begreifen konnte, dass die Menschen bereit waren, etwas zu tun, was ihnen einzig und allein Verlust beschert. Der Kommandant betastete Mladens Leiche weiter und fand vorne rechts, gleich unterhalb des Gürtels, eine Verdickung. Er begann den Gürtel zu lösen, hörte aber
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