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Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich

Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich

Titel: Kommissar Stefan Meissner 01 - Eine schoene Leich
Autoren: Lisa Graf-Riemann
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Mädchen. Mir wäre auch lieber, ich wäre nicht auf deine Hilfe angewiesen. Ich möchte nur von hier bis zum Posten, dann komme ich selbst weiter.«
    »Scheiße! Weißt du, warum ich hier bin? Sicher nicht, um für irgendeinen Dummkopf, der mit einem Schrottlaster in der Zone herumkurvt, Taxi zu spielen. Bist du schon mal Motorrad gefahren? Ich meine, so richtig, mit dreihundert Sachen?«
    »Wenn du glaubst, du könntest mir Angst machen, vergiss es. Fahr einfach so, wie du denkst, lass mich beim Posten absteigen, und ich werde Danke sagen, dir Benzingeld geben, und du kannst dein kindisches Motorradrennen weiterspielen.«
    »Steig auf. Wir fahren nicht zum nächsten Posten, ich hab vorher noch was zu erledigen.«
    Die Frau fährt in der Mitte der Straße. Als Wiktor versucht, über ihre Schulter auf den Tacho zu schielen, reißt ihm der Wind fast den Kopf weg, sodass er sich schnell wieder hinter ihren Rücken zurückzieht. Wahrscheinlich hat sie die angekündigten dreihundert erreicht. Aber ihm macht sie damit keine Angst.
    Wiktor nimmt nichts wahr, nur den Lärm des hochtourigen Motors und den Krach des Windes, der an seinen Haaren zerrt. Dann geht die Motorradfahrerin vom Gas, und Wiktor sieht um sich herum die kleinen Waldhäuser, aus denen Bäume und Sträucher wachsen.
    Was will diese Frau hier? Hier ist nichts mehr, nur noch kaputtes, wertloses Zeug. Die Dorfleute haben doch noch nie etwas gehabt. Zu Zeiten der Sowjetunion nicht, und dann war mit einem Schlag sowieso alles aus. Am 25. April 1986 haben sie die helle Strahlenwolke am Himmel gesehen. Wahrscheinlich sind sie noch auf die Dächer ihrer Katen gestiegen, um sie besser sehen zu können. Was haben sie gedacht? Dass eine Mondrakete startet? Dass das Chemiekombinat in die Luft fliegt? Dass ein Krieg ausgebrochen ist? Egal, was sie sich auch vorgestellt haben – dass sie in wenigen Tagen ihre Häuser würden verlassen müssen und nichts mitnehmen dürften, weil alles verstrahlt war, das haben sie bestimmt nicht gedacht in diesen Stunden. Die Stadt. Die schöne neue Stadt, in der alle Wohnungen fließendes Wasser und Heizungen hatten, in der es Spielplätze gab für die Kinder und ein Schwimmbad, aus ihr mussten alle Menschen weg. Sogar einen Park mit Riesenrad hatten sie in Prypjat.
    Was hat diese Verrückte in ihrer schwarzen Lederkluft jetzt hier zu erledigen? Als sie den Motor abstellt, schlägt ihnen die Stille entgegen, dieses Fehlen von Geräuschen, das Wiktor kennt, aber nicht ertragen kann. Ein Schatten bewegt sich drüben am offenen Scheunentor. Ein Fuchs vielleicht oder eine Katze. Wiktor beginnt, ein Lied zu pfeifen, eines von denen, die seine Mutter ihm als Kind vorsang.
    »Halt den Mund«, herrscht die Frau ihn an.
    »Wen stört es, wenn ich hier pfeife?«
    »Mich«, sagt sie und öffnet eine der Seitenboxen ihrer Kawasaki, kramt darin herum, ohne etwas herauszunehmen. Sie will offenbar nicht, dass er ihr dabei zusieht. Er tut ihr den Gefallen und geht auf das Gestrüpp am anderen Straßenrand zu.
    »Wo willst du hin?«, fragt sie barsch.
    »Pissen, wenn’s recht ist.«
    Er wendet sich ab, aber nur so weit, dass er sie weiterhin aus den Augenwinkeln beobachten kann. Sie nimmt ein Plastiksäckchen aus der Box und schließt sie wieder ab. Dann schaltet sie ihren Geigerzähler an, der knattert, aber nicht übermäßig laut. Sie geht auf das Häuschen mit den kaputten Fensterläden und dem bemoosten Dach zu. Bewegt sich da etwas am Fenster?
    Wiktor zündet sich eine Zigarette an. Als die Frau den Eingang erreicht, öffnet sich die Tür. Es stimmt also, was man sagt. Es leben immer noch Menschen hier in der Zone. Von der Welt verlassen, von den Behörden aufgegeben. Ein altes Mütterchen streckt den Kopf heraus. Sie ist ganz grau, ein schwarzes Kopftuch mit verblassten roten Blumen fasst ein faltiges bäuerliches Gesicht mit breiter Nase ein. Ihren wattierten Mantel mit den aufgenähten Flicken trägt sie wie einen Schutzanzug. Sie dreht den Kopf zu ihm. Er hebt die Hand, aber sie reagiert nicht. Die Strahlenwerte auf dem Display ihres Messgeräts prüfend, folgt die Motorradfahrerin der Alten ins Haus.
    Schwarzes Feld oder weißes. Die Zone ist wie ein Schachbrett. Es gibt Felder, die so stark verstrahlt sind, dass Menschen dort nicht lange überleben können. Auf den weißen Feldern hält man’s länger aus. Nicht jeder. Sie leben von dem, was der Boden gibt, was sie in den Wäldern finden, die hier in ein paar Jahren alles überwuchert
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