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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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wie diese kommen sie nicht. Hier liegt der Schnee hoch.
    Durch die morgendlichen Windstöße fallen die Flocken schräg und ungleichmäßig. Noch gibt es keinen Schimmer von Licht am Himmel, trotzdem scheint das Dunkel eine andere Nuance zu haben. Hinterlässt keinen Zweifel, dass dieser Teil der Nacht schon dem Morgen gehört.
    Er kann Petra Vinters Fußspuren nicht mehr erkennen, er sieht auch nicht mehr nach ihnen.
     
    Das stimmt nicht. Man kann nicht von vorne anfangen, Petra Vinter.
    Die Welt ist, wie sie ist.
    Man muss praktisch sein. Sich arrangieren.
    In einem Punkt hast du nämlich recht: Man hat Verantwortung, wie man Einfluss hat: Eins dividiert durch das Quadrat von 6 Milliarden ist 0,000 000 000 … x.
     
    Gleich werden alle in der Stadt ihre Häuser verlassen, um zur Arbeit zu gehen, die Kinder zur Schule zu bringen, von ihren Geliebten nach Haus zu gehen. Gleich werden alle in den Schnee hinaustreten und ihn mit ihren Füßen markieren, Petra Vinters Spuren verwischen.
    Wenn sie noch da sind.
    Wenn sie je da gewesen sind.
     
    Alle Beziehungen, Freundschaften, ja, sogar das, was sie Liebe nennen, ist ein Geschäft: gegenseitige Bestätigung, Sex gegen Fürsorge, soziale Struktur gegen soziale Struktur. So ist es eben.
     
    So braucht es nicht zu sein.
    Hat Lula gesagt.
    Es ist nicht wahr. Dass er an ihrer Tür klingelte. Es ist wahr, dass er daran dachte. Oftmals daran dachte, jahrelang. Sie war nicht zu Hause. Nein, das ist auch nicht wahr. Einmal stand er vor ihrer Tür oder richtiger: Er ging vorbei. Auf der anderen Seite der Straße. Es brannte Licht. Er ahnte einen Schatten, es hätte Lula sein können. Es hätte jemand anderes sein können. Er hörte Kinderweinen. Es war zu spät, sagte er sich. Die Frau mit dem Kinderwagen ging an ihm vorbei. Es war zu spät. Für ihn.
    Es war von Anfang an zu spät. Alles.
    Die Welt ist, wie sie ist. Er wurde in sie hineingeboren.
    Für ihn war es von Anfang an zu spät.
     
    So braucht es nicht zu sein.
    Sagt Petra Vinter.
    Manchmal hat man eine Chance.
    Nicht noch mal dieselbe. Aber eine neue.
    Immer.
     
    Es ist nicht wahr, Petra Vinter.
     
    In jeder menschlichen Handlung liegt der Keim zu den Handlungen vieler.
    Kann schon sein.
    Aber wo wären wir denn, wenn jeder immer nur seiner inneren Überzeugung folgte? In einer solchen Welt könnte man nicht leben.
     
    Im Übrigen hat er das doch wohl getan, Christianshavns Torv, I. O. Immer. Er hatte etwas zu tun, das war es, woran er dachte. Wofür er etwas fühlte.
     
    Er stopft die Rede in seine Tasche und zieht den Mantel an.
    Geht in den Korridor und öffnet die Tür. Bleibt stehen, als ihm der Schnee ins Gesicht fegt.
    Oder war er einfach praktisch?
    Arrangierte sich?
     
    Er tritt einen Schritt zurück, zieht die Tür zu und geht ins Büro zurück.
     
    »Hände hielten sie überall, den Körper …«
     
    Plötzlich hält er es nicht mehr aus.
    Nur eine Sache ist nicht wahr. Welche?
    Was ist mit den Gesichtern, die sie erkannt hatte? Den vieren, derentwegen sie ihre Geschichte nicht laut erzählte? Ist es wahr?
    »Zwei Dinge wurden mir klar, als ich dort lag: Was andere einem antun, kann man überleben. Man kann nicht überleben, was man selber andern antut.«
    Ob sie Letzteres hinzugefügt hat, weiß er nicht mehr mit Sicherheit. Vielleicht hatte er gefragt oder es bloß gedacht.
    Lag?
    Nein, das hat sie auch nicht gesagt.
    Stand, sagte sie. In seiner Vorstellung steht sie umringt von den Männern auf der Straße. Neben dem Auto. Ja, das weiß er sicher. Der Rest ist im Buch.
    Was andere einem antun, kann man überleben. Nicht das …
     
    Ist das wahr?
    Kann man das?
     
    Im Buch ist der Überfall ein ganz anderer. Trotzdem ist er der gleiche. Im Buch umringen sie nur fünf. Er setzt sich wieder, um das Kapitel mit dem Überfall zu lesen, er nennt es schon gar nicht mehr Vergewaltigung, Massenvergewaltigung, er weiß nicht, warum, aber er verwendet die Wörter nicht mehr. Nein, der Überfall … nach zwei Absätzen muss er aufgeben. Er hält es nicht aus.
    Durchsichtige Augen, die vom dreckigen Parkett aus die Geckos an der Decke anstarren.
    Ihn anstarren.
    Idiot!
     
    Was andere einem antun, kann man überleben.
     
    Diese blauschwarzen Ringe, die ihn umkreisen.
    Wie Fußspuren.
     
    Er kann nicht anders handeln, als er es tut.
    Oder doch?
    Alles hängt zusammen. Der eine Schritt zieht den anderen nach sich. Keiner will verstehen. Akzeptieren.
    Die Welt ist, wie sie ist.
    Man ist genötigt,
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