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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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gebührend zu unterstützen. Sie hatten auch keine Rechteabteilung, die den Titel im Ausland verkaufen konnte. Er hatte eine Weile darüber nachgedacht, ehe er sie fragte. Sein Chef hätte ihm die Frage nie verziehen. Die Visionen verdienten es.
    »Warum geben Sie das Buch nicht im Verlag Ihres Vaters heraus?«, fragte er.
    »Es ist ein Konzern«, antwortete sie. »Er repräsentiert alles, wogegen sich die Visionen wenden.«
    »Schon, aber dann hätten Ihre Botschaften viel mehr Leser. Sehr viel mehr.«
    »Das geht nicht«, hatte sie entgegnet und lange nachgedacht. »Dann hätte ich mir von Anfang an widersprochen und wäre nicht mehr glaubwürdig, weder vor anderen noch vor mir selbst.«
    Das war der Augenblick, in dem er beschloss, sie zu heiraten.
     
    Es ist lange her.
    Was ist da geschehen?
    Oder sind es einfach nur die Jahre, die vergehen?
     
    Wenn sie heute jung wäre, würde ihr Buch von der Zukunft des Landes als pluralistischer Gesellschaft handeln. Vom Tod der Monokultur zugunsten der Multikultur. Davon, dass die Tugenden des Landes nur Tugenden bleiben können, wenn sie sich erweitern, um alle einzubeziehen: Toleranz. Respekt. Gleichwertigkeit. Ehrlichkeit. Vertrauen. Geborgenheit. Gerechtigkeit. Entgegenkommen. Auch diejenigen, die anders sind als wir. Alles muss sich ändern, um gleich zu bleiben, wie Lampedusa sagte.
    Heute würden ihre Visionen diesem Lasst uns die Fremden willkommen heißen und sie lehren, zu werden wie wir -Plakat widersprechen, das zum Kennzeichen ihrer eigenen Partei geworden war.
    Wenn er selber heute jung wäre, hätte er nie überlegt, Petra Vinters Geschichte an die Integrationsministerin weiterzuleiten.
     
    Heute hätte er der Autorin der Visionen die Frage nicht gestellt.
    Heute würde er überhaupt keine Fragen stellen.
    Was soll man auch mit dieser ganzen Fragerei?
     
    Der Schnee fällt in dichten Flocken.
    Er wirft wieder einen Blick auf das Manuskript.
    Wer trägt die Verantwortung dafür, dass so etwas gelesen wird?
     
    Zum Teufel mit Petra Vinter!
    Man soll nicht im Namen anderer moralisch sein.
     
    Und im eigenen?

XXXIV
    S chnee hat etwas Merkwürdiges. Es ist, als gäbe einem die weiße Decke die Illusion, von vorn anfangen zu können. Sich anders entscheiden zu können. Alles Verkehrte richtig zu machen oder jedenfalls, wenn nicht von vorn, so doch von hier aus anzufangen. Auf der Grundlage der im Laufe der Zeit erlangten Klugheit seine Wahl zu treffen, auf der Grundlage all der Fehltritte, die der Schnee mit seiner weißen Möglichkeit zugedeckt hat: Von hier kannst du anfangen. Du kannst wählen, von hier aus zu starten.
    Oder auch, es zu lassen.
    Idiot.
     
    Man kann auf Lulas Haut gehen.
    Oder ist es Petra Vinters Haut?
     
    Er ist ins Grübeln gekommen, die Uhr zeigt fünf neunzehn. Er muss noch die vielen losen Enden miteinander verknüpfen. Seine Rede ist voller Widersprüche. Jedes Mal, wenn er etwas Stimmiges, eine unbestreitbare Wahrheit gefunden zu haben meint, scheint eine Aussage aufzutauchen, die beweist, dass er irrt und die Wahrheit genau das Gegenteil von dem ist, was er eben geschrieben hat, und er muss weitersuchen.
    So geht das nicht. Er muss überzeugend klingen, mit einer klaren These, die er untermauert, wie er es immer tut.
    Wie man es zu tun pflegt.
     
    Wo verläuft die Scheidelinie zwischen dem, was man verantworten kann zu schreiben und was nicht?
    Schreibt Petra Vinter nicht selber über den Überfall?
    Oder jedenfalls über das Drumherum?
     
    Wenn der Künstler sich selbst aufs Spiel setzt , schreibt er. Wenn die Handlung vom Künstler erlebt wurde, wenn sie in der Öffentlichkeit bereits bekannt ist oder wenn von vornherein klar ist, dass man, weil man den Künstler kennt, auch in eines oder mehrere seiner Werke eingehen wird, dann kann der Künstler sich alles erlauben.
    Wenn die Geschichten privat sind und von anderen erzählt wurden, die nicht wussten, dass sie in einem Buch verwendet würden, hat der Künstler die Pflicht, sie unkenntlich zu machen. Sicherzustellen, dass die persönliche Identifizierung in der wirklichen Welt unmöglich ist.
    Oder die Erlaubnis einzuholen …
     
    Ja, hier verläuft die Scheidelinie. Steht das eigene Blut des Autors auf dem Spiel? Gehören die Geschichten auf die eine oder andere Weise dem Autor? Sonst muss er sie zu seinen eigenen machen, indem er sie umschreibt.
    Genau darum dreht sich Fiktion doch, nicht wahr?
     
    Den Spiegel verzerren, so dass etwas anderes als die Oberfläche sichtbar
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