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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester!
Autoren: Lois Duncan
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nahm ich meine Bürste, beschloss aber, dieses abendliche Ritual heute mal ausfallen zu lassen. Mein Blick wanderte durch den Raum und ich sah mein Spiegelbild in der Balkontür. Wie so oft starrte ich es an und fragte mich, was Gordon wohl an mir finden mochte. Warum hatte er mich Natalie, Darlene, Mary Beth und all den anderen vorgezogen? Das Mädchen im Spiegel schaute mich mit großen dunklen Augen an. In der Hand hielt sie eine Haarbürste, mit der sie ihr dickes schwarzes Haar kämmen wollte, ihr Körper war schlank unter dem dünnen Stoff ihres Sommernachthemds. Während ich zusah, hoben sich die Mundwinkel, ganz so, als ob der Laurie im Spiegel gefiel, was sie da sah.
    Erst als ich das Licht ausgemacht und unter die Decke gekrochen war, merkte ich, was an dem Bild nicht gestimmt hatte.
    Der Mund auf dem gespiegelten Gesicht war nicht mein Mund gewesen.
    Ich hatte nicht gelächelt.

VIER
    IN DIESER NACHT SCHLIEF ICH kaum. Lange lag ich zitternd unter der Decke und versuchte mir einzureden, dass das, was ich gesehen hatte, nicht echt gewesen war. Vielleicht hatte eine Krümmung im Spiegelglas, der Einfallswinkel des Lichtes oder meine eigene Sinnestäuschung das Bild verändert. Vielleicht hatte ich gelächelt, ohne es zu merken. An meinen Gesichtsausdruck hatte ich schließlich nicht gedacht, als ich auf die reflektierende Schiebetür geguckt hatte. Ich hatte an Gordon gedacht, daran, dass wir wieder zusammen waren, dass wir unser erstes großes Missverständnis überstanden hatten, ohne uns zu trennen. Bei diesem Gedanken hätte ich durchaus lächeln können, oder? Wäre doch ganz natürlich gewesen.
    Nur wusste ich, dass ich es nicht getan hatte.
    Ich dachte daran, nach unten zu gehen und meiner Mutter die ganze Geschichte zu erzählen. Ihre Gesellschaft wäre beruhigend, aber was konnte sie schon dazu sagen? »Du bildest dir Sachen ein, Schatz. Ein Spiegelbild ist nichts weiter als ein Spiegelbild. Es tut nur das, was du tust. Das weißt du doch.« Sie würde die ganze Sache mit einem Achselzucken abtun, so wie heute Nachmittag, als ich sie auf dem Flur angesprochen hatte. »Ach, Schatz, das glaube ich nicht«, hatte sie da gesagt. Und heute Abend würde sie das auch wieder sagen, nur schläfriger, ihr Verstand war schon runtergefahren auf das entspannte Niveau, das Weißwein und der Einbruch der Dunkelheit bewirkten, und lief längst nicht mehr auf den hohen Touren, die er morgens erreichte.
    Und was hätte ich ihr denn erzählen können, das sich nicht lächerlich anhörte? Was sollte sie mir eigentlich glauben? Dass jemand auf dem Balkon stand, sich die Haare bürstete und zu mir ins Zimmer lächelte? »Dann wollen wir uns das mal anschauen«, würde sie ganz vernünftig sagen, aus dem Bett aufstehen und nach ihrem Bademantel greifen. »Wenn hier jemand ist, müssen wir das unbedingt wissen.« Aber da war niemand. Das wusste ich bereits. Von meinem Bett aus konnte ich jeden vom Mond beschienenen Quadratzentimeter des Balkons sehen, und der war leer.
    Schließlich schlief ich doch ein, mein Schlaf war unruhig und voller Träume. Es waren seltsame Träume, die sich zu überschneiden schienen, ineinanderübergingen und sich ineinanderfügten wie die Teile eines Puzzlespiels, jedes Teil für sich war bedeutungslos, aber zusammen schien sich ein ganzes Bild zu ergeben. In einem Traum standen Gordon und ich auf einem Felsen am Rande der Klippe, und als ich den Kopf hob, um mich von ihm küssen zu lassen, sah ich hoch über mir Megans Gesicht in ihrem Fenster. Sie machte den Mund auf und zu, immer wieder, als wollte sie mir eine Warnung zurufen, aber das Tosen der Brandung war so laut, dass ich nichts verstehen konnte. Dann kippte ganz plötzlich der Fels unter meinen Füßen scharf nach vorn. Halt suchend langte ich nach Gordon, aber er wich zurück, und meine Hände griffen ins Leere. Dann fiel ich, fiel und fiel, Millionen Meilen tief bis ins kalte, schäumende Wasser.
    Nur, als ich hineintauchte, war es überhaupt nicht kalt, sondern weich und warm, und ich musste mich nicht anstrengen, oben zu bleiben, das Wasser trug mich nämlich und wiegte mich sanft. Irgendwer schwamm neben mir. Erst dachte ich, es wäre Gordon, aber dann merkte ich, dass mir die Person viel näher war, sie bewegte sich, wenn ich mich bewegte, hielt inne und ruhte sich aus, wenn ich mich ausruhte.
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