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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester!
Autoren: Lois Duncan
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sollten wir lieber hinter uns lassen«, schrieb er.
    Was liegt wohl vor Jeff und mir? Wir haben uns jetzt schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Im Mai hat Jeffs Vater wieder geheiratet und Jeff ist in einer Klinik in Boston operiert worden. Die Operation ist gelungen, obwohl weitere Eingriffe nötig sind. Er wohnt bei seiner Mutter, bis seine Ärzte meinen, dass er für die zweite Operation bereit ist.
    Jeff schreibt: »Ein hübscher Junge werde ich wohl nie mehr, aber deinen Eltern habe ich zu verdanken, dass ich einen neuen Anlauf nehmen kann, wieder wie ein Mensch auszusehen.«
    Ein neues Kapitel seines Lebens ist in Vorbereitung. Werde ich einen Platz darin haben? Oder sollte ich nur in einer gewissen Zeit eine bestimmte Rolle übernehmen, ein Mädchen sein, das er liebte, als andere Mädchen nichts von ihm wissen wollten?
    Und Lia? Was ist mit Lia? Ich weiß, sie wohnt in Cliff House. Ich sehe sie nicht, spüre aber ihre Nähe. Nachts höre ich sie – oder glaube sie zu hören – ein Lufthauch neben meinem Kissen, ein Rascheln im Flur vor der Tür meines Zimmers. Ganz schwach höre ich sie in meinen Träumen wispern: »Du, Laurie! Du bist schuld!«
    Doch woran bin ich schuld? Warum bleibt sie? Worauf wartet sie? Sie weiß, dass ich nie wieder so dumm sein werde, eine Astralreise zu unternehmen. Sie hat selbst einen Körper. Warum kehrt sie nicht in den zurück?
    Das waren die Fragen, die ich mit Megan erörterte. Erstaunlicherweise wurden sie von meinem Vater beantwortet.
    Eines Abends kam er in mein Zimmer und setzte sich ans Fußende von meinem Bett.
    Â»Ich hab Neuigkeiten für dich, Laurie«, sagte er. »Ich fürchte, dass sie dir Kummer machen, aber ich finde, du sollst sie hören. Ich habe mit Arthur Abbott telefoniert.«
    Â»Woher weißt du denn von ihm?«, fragte ich.
    Â»Ich hab ein Ferngespräch zurückverfolgt, das auf unserer Telefonrechnung aufgetaucht war. Die Nummer war aufgeführt. Er und ich haben uns ziemlich lange unterhalten. Er hat mir von deinem Anruf bei ihm erzählt. Deiner Mutter habe ich nichts davon gesagt und das soll auch so bleiben.«
    Â»Und was sind das für Neuigkeiten?«
    Â»Dein Zwilling war krank«, sagte Dad. »Sehr krank.«
    Â»Das weiß ich schon, Mr Abbott hat es mir erzählt.«
    Â»Sie hatte offenbar die Gewohnheit, während des Tages phasenweise tief zu schlafen. Eines Nachmittags ist sie eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht.«
    Â»Sie ist nicht aufgewacht?«, wiederholte ich. »Das kann nicht sein, Dad. Ich bin mir sicher, eine Woche später …«
    Â»Du hast es nicht verstanden«, sagte Dad sanft. »Es gab keine Vitalzeichen. Keine Atmung, kein Herzschlag.«
    Â»Du verstehst das nicht«, sagte ich. »Es mag vielleicht so ausgesehen haben, aber ich bin mir sicher, dass sie irgendwann das Bewusstsein wiedererlangt.«
    Â»Die Leiche wurde eingeäschert, Laurie«, sagte mein Vater. »Ich weiß, wie verstörend das für dich sein muss, aber ich fand, du solltest es erfahren, damit du mit dieser zwanghaften Suche aufhören kannst. Sie ist weg. Es ist vorbei. Bitte, akzeptiere diese Tatsache. Nach allem, was mir Mr Abbott erzählt hat, war sie kein Mensch, den du hättest kennen wollen.«
    Hat mein Vater recht? Ist es wirklich vorbei? Wie weit kann Licht verblassen? Ist es je völlig verschwunden oder hält es sich ganz schwach und unbestimmt für alle Zeiten?
    Gäbe es einen Meilen hohen Berg aus Granit und alle tausend Jahre käme ein Vöglein vorbei und wetzte seinen Schnabel daran …
    An das Thema Ewigkeit will ich nicht denken.
    In einer Woche werde ich von zu Hause weg aufs College gehen. Für mich bricht ebenso wie für Jeff eine neue Lebensphase an. Darauf will ich mich konzentrieren. Das Leben geht weiter, und wir alle verändern uns ständig, wohin das führt, können wir nicht wissen.
    Aber jetzt, nicht weil es mir ernst ist damit, sondern weil ich einen Vater habe, der Schriftsteller ist, von dem ich weiß, wie ein Manuskript aussehen soll, werde ich schreiben:
    Ende
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