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Königskind

Königskind

Titel: Königskind
Autoren: R Merle
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von Österreich betrat.
    Die kleine Königin stand am Fenster und schaute in den Hof des Louvre auf die zehn Karossen, die Marias Reisezug bildeten,
     und auf die Kompanie von Monsieur de la Curée, die ihn eskortieren sollte. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, denn sie mißverstand,
     was geschah, und fürchtete, ihr blühe ein ähnliches Los wie der Königinmutter. Nachdem sie vor Ludwig das Knie gebeugt und
     ihn begrüßt hatte, nahm er ihre Hand und beruhigte sie in wenigen, gütigen Worten. Dann sah er zu, wie der Zug sich in Bewegung
     setzte.
    Als die ersten Wagen durch den gewölbten Torweg fuhren, auf die Zugbrücke und die ›schlafende Brücke‹, entschwanden sie einer
     nach dem anderen der Sicht. Da nahm Ludwig Urlaub von Anna und begab sich in die Kleine Galerie, wo der Billardtisch stand,
     an dem er am dreiundzwanzigsten und vierundzwanzigsten April so viele Stunden mit Spielen oder der Vortäuschung von Spielen
     verbracht hatte. Er lehnte sich an die steinerne Brüstung und sah, wie die erste Karosse auf den Pont Neuf einbog. Es war
     der Wagen von Monsieur de Bressieux. Der zweite, mit schwarzem Samtverdeck und sechs Apfelschimmeln davor, war der seiner
     Mutter. Ludwig blickte ihrer Karosse hinterher.
    Der venezianische Gesandte, der mit uns dem König in die Kleine Galerie gefolgt war, sollte Frau von Lichtenberg später anvertrauen,
     der König habe dem mütterlichen Gefährt
»con gusto particolare«
1 nachgesehen
.
Ich denke aber, der Gesandte bildete sich dies eher ein, denn Ludwigs Gesicht ließ nichts erkennen. Wenn ich jedoch nach den
     Empfindungen derjenigen urteile, die wie ich das Leben des Königs, seine Ängste und seine Prüfungen über Jahre geteilt hatten,
     würde ich von einer |477| großen Erleichterung sprechen, wie wenn der bleierne Mantel, der unter der Fuchtel der Regentin über dem Louvre gelastet hatte,
     sich auf einmal gehoben hätte und vom König abgefallen wäre. Das aber war eine tiefernste Gemütsbewegung und etwas sehr anderes
     als ein ›Vergnügen‹: Der König war frei. Er war König. Er konnte endlich leben.
    Als die Karosse der Königin dem Auge entschwunden war, befahl Ludwig seine eigene Karosse und lud Luynes, Vitry und mich ein:
     eine außerordentliche Ehre, besonders in solch denkwürdigem Augenblick, die mich aber unvorbereitet traf. Ich fand gerade
     noch Zeit, La Barge zu meinem Vater und zur Gräfin zu schicken, um mich bei ihnen für mein unvorhergesehenes Fernbleiben zu
     entschuldigen.
    Auf der Reise lehnte sich Ludwig, wie er es oft tat, in die rechte Ecke mit Sicht auf den Weg, zog den Hut über die Augen,
     kreuzte die Hände überm Bauch und tat, als schlummere er. Dies bedeutete, daß wir nicht reden sollten und daß er erst recht
     nicht reden wollte. Hierauf beschloß Vitry mit der Geradheit, die er in alle seine Handlungen setzte, zu schlafen, und dem
     Befehl gehorsam, den er sich selbst erteilt hatte, schlief er auch wirklich ein. Luynes hingegen blieb wach, die Augen in
     die Ferne gerichtet, aber den Sinn, denke ich, voll recht deutlicher Träume von der großartigen Zukunft, die ihn erwartete.
     Ich beneidete ihn nicht, durchaus nicht, doch bei all seiner Liebenswürdigkeit, meinte ich im stillen, war er für dieses große
     Geschick zu klein.
    Eine Weile, bevor wir Vincennes erreichten, löste sich der König aus seiner Versunkenheit, nahm die Hände auseinander, hob
     seinen Hut und warf einen Blick durchs Fenster, woraufhin er laut bemerkte, daß es immer noch regnete. Dann sagte er unvermittelt,
     als führe er stille Gedanken fort, mit einer Stimme, aus der die Wärme einer lebhaften inneren Bewegung sprach: »Am dreiundzwanzigsten
     und vierundzwanzigsten April gab es im Louvre zwanzig Edelmänner, die von unserem Vorhaben wußten. Und alle haben das Geheimnis
     gewahrt! Keiner hat mich verraten!«
    Dann wechselte er das Thema mit einer Logik, die mir zunächst entging, und berief im gleichen Ton den nahezu überwältigenden
     Empfang, den ihm die Pariser bereitet hatten, als er am Nachmittag des vierundzwanzigsten April zu Pferde |478| durch die Hauptstadt zog. Fünf Minuten darauf, als zöge er aus beiden vorhergehenden Bemerkungen einen zulässigen Schluß,
     sagte er ernst und wie gesammelt: »Ich werde geliebt von den Franzosen. Ich will ihnen ein guter König sein.«
    In diesen Worten lag etwas, das ich wie ein überraschendes Echo der Abschiedsworte an seine Mutter empfand: »Liebt mich. Ich
     werde Euch ein
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