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Königsallee

Königsallee

Titel: Königsallee
Autoren: Horst Eckert
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Mutter – die Tochter hat ihr noch nicht verraten, dass die Hochzeit ausfällt, dachte Reuter.
    Winters deutete auf einen Teller Kekse. »Bedienen Sie sich.«
    Auf einer Anrichte stand eine ganze Sammlung gerahmter Babyfotos. Säuglinge in allen Varianten: nackt, in Windeln, im Strampelanzug. Darunter auch asiatische und afrikanische Gesichter, zum Teil aus Illustrierten geschnitten. Ein Bild hatte ein größeres Format und steckte in einem aufwendigen Rahmen. Blattgold, schätzte Reuter.
    »Hübsch«, sagte er und deutete darauf.
    »Ja, das ist Lena.«
    »Lena?«
    »Meine zweite Tochter. Juli und Lena. Sie sind ein Jahr auseinander. Lena geht zur Universität. Sie schreibt Gedichte und so.«
    Reuter warf Scholz einen Blick zu. »Sie meinen Henrike Andermatt?«
    »Ich hab sie damals Lena genannt. Lena Winters, weil es so schön klingt. Aber leider konnte ich sie nicht großziehen. Ich hatte ja schon Juli und mein damaliger Freund mochte keine Kinder. Und außerdem meine Krankheit. Ich hab Kreislauf, wissen Sie?« Die Frau begann zu weinen und ihre Stimme sprang in eine höhere Tonlage. »Die Hebamme sagte, sie wüsste Leute, bei denen es Lena gut haben würde. Der Mann war Richter, verstehen Sie? Und die Frau hat sich immer so sehr ein Kind gewünscht. Reiche Leute. Sie haben mir Geld gegeben.«
    Reuter setzte sich nun ebenfalls.
    Die Mutter ächzte. »Sie haben versprochen, Lena gut zu behandeln. Aber zu Juli waren sie gemein, als sie Arbeit brauchte. Stellen Sie sich vor: Sie haben Juli sogar den Kontakt zu ihrer Schwester verboten. Das geht doch nicht, oder?«
    »Die Andermatts sind Lenas Pflegeeltern?«
    Sie schnaufte und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Wie richtige Eltern. Die Hebamme meinte, es wäre das Beste für das Kind. In den ersten Jahren haben sie mir Weihnachtskarten geschickt. Aber dann …« Sie holte mehrmals tief Luft und gab dabei ein brummendes Geräusch von sich. »All die Jahre kein Lebenszeichen. Können Sie sich vorstellen, wie weh das einer Mutter tut?«
    »War Lena vorgestern bei Ihnen?«
    »Am Samstag, ja. Wenn ich gewusst hätte, dass sie kommt, hätte ich Kuchen gebacken.«
    »Was hat sie gesagt?«
    »Sie wollte wissen, wie das damals alles war. Warum ich sie weggegeben habe, und so. Ich hab mich sehr über den Besuch gefreut. All die Jahre diese Sehnsucht. Lena ist ein gutes Mädchen.«
    Scholz zeigte auf den Fernseher: »Gucken Sie auch mal Lokalnachrichten, Frau Winters?«
    »Ach, die zeigen doch nur Unfälle, Brände und so. Ich hatte in meinem Leben schon genügend Unglück. Das brauch ich nicht mehr.« Sie griff nach dem Teller. »Wollen Sie wirklich keinen Keks?«
    »Danke.«
    Winters mampfte und sagte: »Lena hat mir ein Gedicht vorgelesen, das sie mir gewidmet hat. Über ein dunkles Haus mit zwei Ausgängen und so. Einer nach vorn, der andere nach hinten. Den Rest habe ich mir leider nicht gemerkt. Ich wollte, dass sie bleibt, aber leider hatte sie keine Zeit.«
    Reuter stellte sich vor, wie groß der Schock für Henrike gewesen war. Er fragte sich, wann sie erfahren hatte, wer ihre wahre Mutter war.
    »Wissen Sie noch, wie die Hebamme hieß, die Ihnen damals geholfen hat?«
    Die dicke Frau überlegte lange, dann sagte sie: »Das ist jetzt über zwanzig Jahre her. Sie war von hier, aus Hamborn. Der Name …« Sie deutete zur Kommode hinüber. »In der Anrichte sind Briefe. Da …« Sie keuchte schwer. »Schauen Sie nach. Ich kann jetzt nicht.«
    Reuter zog die Schublade auf und begann zu wühlen. Er fand einen dünnen Packen Briefe und Weihnachtskarten. Krippenmotive und allerlei Engel – Karten der billigsten Sorte, knappe Grußworte. »Kinder sind ein Segen«, sagte Frau Winters und blickte zum Fernsehschirm.
    Reuter erinnerte sich, den Satz schon einmal von Juli gehört zu haben. »Wie viel haben Sie von den Andermatts für das Baby erhalten, Frau Winters?«
    »Zweitausend Mark. Ich habe mir davon die Küche gekauft. Immer, wenn ich den Kühlschrank aufmache, sage ich mir, dass es Lena jetzt besser hat. Stimmt doch, oder?«
    Reuter überlegte, wie er der Frau beibringen sollte, dass ihre Tochter nicht mehr lebte.
    »Ich bin so stolz auf Lena. Mir hat noch nie jemand zuvor ein Gedicht gewidmet.«
    Reuters Handy tönte. Thilo Becker, der MK-Leiter: »Seid ihr noch in Duisburg?«
    »Ja, wieso?«
    »Vielleicht interessiert es euch, dass wir einen neuen Hinweis auf ein Wohnmobil haben. Diesmal scheint es das richtige zu sein.«
78.
    Auf dem Weg zum Auto
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