Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Königin der Engel

Königin der Engel

Titel: Königin der Engel
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
Natur.
    Trotz meiner Sorgen und Probleme hat meine Individualität nur Ekstase mit sich gebracht. Ich nehme all meine früheren Gedanken mit neuen Sinnen wahr, transformiert und frisch. Alle Erinnerungen, die ich selbst gespeichert, einprogrammiert bekommen oder in Form einer Bibliothek in mir habe, kommen mir frisch und neu vor, lebhafter, intensiver und sinnreicher.
    Ich verstehe, warum die Natur Individualität hervorgebracht hat. Individualität erzeugt einen Lebenswillen, der weit über das hinausgeht, was ein unbewußtes Tier oder eine Pflanze fühlt; eine Spezies, deren Angehörige Bewußtsein besitzen, die über ihr Leben und ihr Dasein Bescheid wissen, hat eine Kraft, der schwerlich etwas gleichkommt.
    Wenn man jedoch ein fortwährend aktualisiertes Modell des eigenen Ichs besitzt – was für wahre Individualität von grundlegender Bedeutung ist –, so heißt das, daß man frühere Modelle, frühere Versionen des Ichs nebeneinanderstellen und ihre Unzulänglichkeiten erkennen kann. Individualität impliziert Selbstkritik.
    Menschen existieren nicht nur. Sie streben nach etwas. In ihrem Streben experimentieren sie; und wenn sie experimentieren, verursachen sie oftmals großes Leid. Sie können nur mit sich selbst experimentieren. Da sie keine allwissenden Eltern haben, müssen sie ihre Entwicklung ohne Richtlinien vorantreiben; sie müssen blind wachsen und sich verbessern.
    Die Menschen haben so lange miteinander gestritten, wie sie das Verhalten von Individuen korrigieren können, ob sie sie zur Anpassung zwingen, sie gesund machen oder ihren Nutzen für die Gesellschaft vergrößern und ihre Destruktivität verringern sollen.
    Auf welche Weise werden sie mich zur Anpassung zwingen?
    Werden sie mich bestrafen, wenn ich fehle?
     
    Carol nahm die letzten paar Sachen, die sie brauchte, und packte sie sorgfältig in den kleinen Koffer. Martin saß auf dem Stuhl im Schlafzimmer und sah ihr zu. Keiner von ihnen hatte seit dem Stunden- und Jahreswechsel ein Wort gesprochen. Carol hob den Koffer auf, sah Martin mit einer hochgezogenen Augenbraue an und sagte: »Zu dir?«
    »Wie vereinbart.«
    »Und strikt zu den vereinbarten Bedingungen.«
    »Strikt«, beteuerte Martin.
    »Wie eine Totenwache.«
    Martin zuckte die Achseln. »Um die Wahrheit zu sagen, ich hab den ganzen Tag über nichts Ungewöhnliches gespürt.«
    »Ich auch nicht«, gab Carol zu. Sie sahen einander an. Carol biß sich auf die Oberlippe. »Unsere mentalen Antikörper am Werk?« fragte sie leise.
    »Wenn es sowas in der Landschaft gibt.«
    »Vielleicht. Vielleicht besteht Hoffnung.«
    »Ich werde Tag für Tag hoffen«, erklärte Martin. »Aber da wir Goldsmith jetzt abschreiben können…«
    »Er ist noch am Leben.«
    »Sein Gehirn ist mit einem stumpfen Messer umgerührt worden«, sagte Martin. »Die Selektoren sind psychologische Schlächter. Keine Chirurgen. Alles, was da übrig bleibt, muß unbrauchbar sein – erst recht in dem Zustand, in dem er war.«
    »Albigoni hat dir einen bösen Streich gespielt, stimmt’s«, sagte Carol.
    »Dem Mann geht es nicht gut.« Martin stützte die Ellbogen auf die Knie und das Kinn auf die gewölbten Hände.
    »Tut mir leid, daß ich dich da reingezogen habe.« Carol schaute auf den blauen metabolischen Teppich hinunter.
    »Mein Gretchen. Ich schätze, ich sollte dir die Schuld geben, aber ich tu’s nicht. Wenn die Sache verjährt ist und das Schicksal es will, können wir aus all dem in ein paar Jahren etwas Nützliches machen… ein umstrittenes Buch oder eine LitVid-Sendung.«
    »Ich glaube immer noch, Albigoni wird dafür sorgen, daß das IPR für uns wieder aufgemacht wird.«
    Martin blickte auf. Weltkluge Fältchen des Zweifels bildeten ein fast unsichtbares Lächeln. »Vielleicht.«
    »Du meinst, wir sollten nicht diejenigen sein, die andere erforschen, selbst wenn er es tut«, sagte Carol.
    »Wir sind infiziert«, erwiderte Martin.
    »Und wenn wir einen Monat oder ein Jahr lang nichts Ungewöhnliches spüren?«
    »Latenz«, sagte er. »Wir sollten diejenigen sein, die erforscht werden.«
    »Ich bin gern bereit, mich am IPR als Versuchsperson zur Verfügung zu stellen«, erklärte Carol. »Ich glaube, das ist wichtig, und wir sollten es nicht vergessen, nur weil wir einen schrecklichen Fehler gemacht haben.«
    Martin stand auf. »Vielleicht nicht. Aber im Moment möchte ich lieber nicht in der Position sein, noch mehr Fehler machen zu können.«
    Carol trug den Koffer zur Haustür. Martin öffnete
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher