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König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)

Titel: König, Hofnarr und Volk: Einbildungsroman (German Edition)
Autoren: Andrea Winkler
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Denkart gewiss nicht irrt. Ich werde wohl noch einmal an den Stadtrand fahren, unter mir den Eiston hören und das leichte Beben fühlen, und aus dem Wörtchen, das ich in der hauchdünnen Schneedecke nicht lesen konnte, wird meine Angst so fröhlich durch mich hindurch fließen, dass ich mich von ihr gar nicht mehr unterscheiden mögen werde. Was für ein Fest! Hörst du, Agnes? Wir gehen dann in die Volksschule zurück und nehmen der Klassenlehrerin die Kreide aus der Hand, weil wir auf dem Klassenboden noch ein paar Fußabdrücke einzeichnen müssen. Wir sind hier gewesen , schreiben wir hinein. A-A-A. Und die Klassenlehrerin, wenn ihr Schritt in die Spur tappt, wird aus der Ecke einen Laut vernehmen, ein Trippeln wie von Schritten, ein Seufzen wie von Kindern, und sie wird sich umsehen und sich sehr darüber wundern, dass doch gar niemand da ist. Und am nächsten Tag wird sie mit ihrer neuen Klasse die Luft im Zimmer verschieben, und etwas durchfährt sie da kurz, so ein kleiner Schrecken, eine bange Erinnerung, aber mit einem Male wird ihr leicht zumute, und sie weiß gar nicht, wie’s kommt. Du träumst, Lina! Geh nach Hause. O ja, ich weiß, ich weiß, dass ich träume, und ich weiß, dass ich nach Hause muss, durch die Allee, um dem Menschenerforscher, wenn er in einem der Häuser auf den Balkon tritt, weil da unten sein Experiment, der Beinahe-Wahnsinn, vorbei streift, den Arm in wütender Gebärde entgegenzustrecken. Du träumst, Lina!
    Zuhause ist aber nicht mehr Zuhause, seit meine Nachbarin fort ist. Ich stehe am offenen Fenster und sehe in ein dunkles Zimmer, wo kein Schattenriss mehr von einer zur andern Wand spaziert, wie dies wohl einst Dichter und Denker taten, denen die Wirklichkeit keine Ruhe ließ und die von den Gedanken, grade so, als ob sie greifbar wären, in ausgesprochen wirkliche Bewegung versetzt wurden. Ja, in eine Zimmerbewegung eben, die den erwartet, der keine Nachricht vorfindet. Anders würde er sich doch das Taschentuch von den Augen ziehen und, mit einem Blatt in der Hand, die Treppe hinunter laufen, zum Bahnhof, und dem Zug hinterher winken, dem Gesicht, das heraus schaut und auf und davon fährt? Aber ohne Silhouette: nichts. Kein zu Boden gleitender Pullover, und keine Ellbogen, die sich aufstützen, und keine Hände, die einen Kopf halten, der vielleicht müde ist. Ach was, so müde auch wieder nicht. Ich werde näher zum Bild an der Wand treten und etwas darin entdecken, das ich noch nie darin entdeckt habe, etwas, das müde Augen leicht übersehen, weil müde Augen zwar immer noch zu viel sehen können, aber doch nicht alles. Hier, auf dem Boden, steht ein Wasserkrug. Zum Löschen des Feuers, bevor die Frau schlafen geht oder sonst wie die Wohnung verlässt? Was meinst du, Lampe? Muss niemand das Feuer im Ofen mit Wasser löschen, ehe er geht? Wo es doch so zart lodert. Und Du, Jakob, was meinst Du?
    Lieber Jakob, ich befinde mich in einem merkwürdigen Zustand und weiß nicht, wie ihn Dir schildern. Ich bin ein wenig außer mir. Nichts Neues, Lina, wirst Du sagen, ich weiß, werde ich antworten. Und doch, es ist ganz anders als bisher. Ich fühle mich so ruhig dabei, so still und unaufgeregt, und ich will mit Bestimmtheit nichts mehr so recht. Soll das sein? Die Nachbarin ist verschwunden, das heißt, ihre Silhouette. Und dann musste ich am Institut für Gedankenkunde und Verstehen , ausgerechnet in Professor Icks’ Gedankenstunde, einen Aufsatz zu dem Thema verfassen, »was wäre, wenn es noch ankäme auf mich, und Abschiede, Trennungen und Brüche nicht nur ein dichterischer Einfall, sondern wahres und wirkliches Leben wären –«. Lachst Du, wenn Du das liest? Wenn es noch ankäme auf mich, hätte ich auch gelacht, herzlich und unmissverständlich. Ich hätte sozusagen zum Abschied gelacht. Als ob es noch ankäme auf mich, stand meine Figur, meine Lieblingsfigur mit dem Allerweltsnamen, dann am Fluss und baute ein Floß für das, was zerbrochen ist. Auf Wiedersehen! Womöglich braucht meine Figur nicht einmal einen Allerweltsnamen, weil sie hier ohnehin alles unversehens auffordert, ihre Geschichte, alles, was ihr immer wieder geschieht, ganz hinzugeben. Die Tapferkeit hat sie beinah verlassen, als sie da am Ufer stand und alles Zerbrochene in die Unendlichkeit schicken wollte. Ein jeder Strom mündet ins Meer, nicht wahr? Wunderbarerweise kam in diesem Verlassenheitsaugenblick der Reisende daher, das heißt, ich hab ihn hinzitiert, wenn auch nur für einen sehr
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