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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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Füßen sich vom Regen aufgeweichte alte Papierschnipsel häuften?
    Meine Mutter löste sich langsam auf und in ihrem letzten Sommer mietete mein Vater ein Haus mit ockerfarbenem Rauputz hoch oben in den Hügeln. Wir blickten auf orangefarbene, ins Meer abfallende Felsen, auf Erdbeerbäume und Korkeichen hinunter. Im Osten erstreckte sich im hellen, klaren Licht ein sichelförmiger Strand. Ein Stück weiter gab es Villen, reihenweise Hotels, Leuchtreklamen, Drei-Sterne-Campingplätze, Strände und Felsbuchten aus hellrotem Porphyr, linienförmige Anordnungen dickstämmiger Palmen, Bars mit ausgeschalteten Neonlichtern. Die Terrasse ging zur Bucht. Eine Strandkiefer stand in dem von Nadeln bedeckten Garten. Ich drückte die Stirn an die warme Rinde, zog ein paar Streifen ab, und etwas Saft rann über meine Finger. Im Wohnzimmer roch es nach Staub und altem Holz, Salz und trockenem Stein, und noch heute steigt dieser Geruch manchmal in mir auf, er springt mich an, überfallt mich, geht mir unter die Haut und durchdringt mich.
    Der Tag brach mit einem graurosa Dunstschleier an, die Luft war bereits lau. Maman stieß die Fensterläden auf und verbrachte den Vormittag, chinesischen Tee trinkend, auf der Terrasse, in der Hand ein Buch, oder vielleicht war es auch eine Elle. Das Wasser glitzerte, so weit das Auge reichte. Sie rauchte Mentholzigaretten, wippte im Sitzen vor und zurück und beobachtete die am Himmel kreisenden Vögel, die nach heruntergefallenen Krümeln von Croissants, Brot-oder Briochestückchen Ausschau hielten. Manchmal erhob sie sich auch aus ihrem Sessel und ging ein paar Schritte durch den Garten, wo sie mit säumiger Hand über die Blätter, die hohen Gräser, den Stamm, die Rinde, den Stein strich. Mittags holte mein Vater den Standgrill hervor und legte Sardinen oder Fleisch auf den Rost. Nach dem Kaffee gingen wir hinunter ans Wasser. Ein Weg führte zum Strand, zu der kleinen Snackbar und den auf den Sand gezogenen Tretbooten. Er war zu beiden Seiten von Lorbeerhecken gesäumt. Durch sie erspähten wir Schwimmbecken, Gartenmöbel auf den Terrassen, liegen gelassenes Kinderspielzeug, zum Trocknen aufgehängte Handtücher. In der Luft hing der Geruch von Lakritze und getrockneten Kräutern. Von meinen Eltern gefolgt, stürmten Antoine und ich den Weg hinunter und erwarteten sie dann unten außer Atem, mit pochenden Schläfen und darauf brennend, uns endlich ins Wasser zu stürzen. Maman ging nie baden, sie begnügte sich damit, am Strand auf und ab zu schlendern, das Kleid bis auf Wadenhöhe angehoben, die nackten Füße im ruhigen Wasser. An manchen Tagen wagten Antoine und ich uns bis zu den kleinen Felsbuchten vor. Steil fielen die Hänge ins kristallklare Wasser ab. Bäume wuchsen auf den Felsen, man fragte sich, wie, Kräuter, Brombeersträucher und Büsche krallten sich an den nackten Stein. Barfuß gingen wir die Wege entlang. Liefen, das zusammengerollte Handtuch im Nacken, mit roten Knien, abgeschürften Fingern und schweißklebendem Haar zwischen den glühenden Felsen umher. Die Sonne brannte auf unseren Lidern. Wir hängten unsere Kleider an die Zweige eines Baums, machten einen Kopfsprung ins türkisfarbene Wasser und schwammen zur Insel. Die anderen waren schon dort, kauten auf Holzstückchen, rauchten und schauten dabei in den azurblauen Himmel, redeten mit unendlich ernsten Mienen über alles und nichts und strichen sich mit der Hand gedankenverloren über ihre gebräunten Oberkörper.
    Im Abendlicht gingen wir zurück, Maman legte sich hin und winkte uns zu sich, wir schmiegten uns an sie, jeder auf einer Seite, sie strich uns singend übers Haar, so wie ein Jahr später im abgeschlossenen Zimmer mit Blick auf die Klippen von Étretat. Von dort oben sahen wir, wie die Sonne im graublauen Wasser versank und die vorkragenden roten Felsen in Brand setzte. Durch die Vorhänge wirkte das Licht orange. Maman döste ruhig und friedlich vor sich hin, und ich höre noch heute, wie sie die alten Schallplatten von Billie Holiday mitsummte, die sie von morgens bis abends immer wieder auflegte.
     
     
     
     
     
     
    Ich habe meine klarsten Erinnerungen in den vier Wänden eines Sommerhauses zurückgelassen. Ein Monat war in der milden Luft vergangen, das Licht war wie eine Liebkosung, und als wir der Terrasse und dem Blick auf die Bucht den Rücken kehrten, versteckte sich Maman, um zu weinen. Ein paar Wochen später verbrannte sie sich die linke Hand, und zwar absichtlich. Ich war dabei,
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