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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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Morgen und über die Stille, die sich mittwochs oder in den Ferien, oder wenn ich krank war (was, wie ich glaube, sehr häufig vorkam) und mit ihr allein zurückblieb, im Haus breitmachten. Dann erfüllte eine unendlich bedrückende Stimmung den Raum, ließ die Luft trocken werden, veränderte die Gerüche. Alles schien plötzlich innezuhalten, zu stocken, es war wie kurz vor einem Asthmaanfall oder beim Stottern. Eine schleierhafte Traurigkeit, die an einen nicht enden wollenden November erinnerte, ließ uns innerlich gefrieren, meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich wusste nicht, warum. An solchen Vormittagen irrte meine Mutter bleich und ziellos durchs Haus, wanderte untätig von einem Zimmer ins andere, setzte den Wasserkessel auf und vergaß ihn, fegte mit dem Besen oder wischte mit dem Scheuerlappen herum, obwohl alles sauber war, räumte auf obwohl kaum etwas herumlag. Sie schaltete erst das Radio an, dann den Fernseher, in dem schlecht synchronisierte Sendungen voller Kerzen, Ledersofas, Blumenarrangements und Kaminfeuern endlos abgespult wurden. Sie sah zerstreut zu, erhob sich von ihrem Sessel und ließ den Fernseher im Hintergrund weiterlaufen. Manchmal rief sie jemanden an, und dann hörte ich von meinem Zimmer aus ihre erstickte Stimme. Ich hatte keine Ahnung, mit wem sie sprach. Soweit ich wusste, hatte sie keine Freundinnen und auch keine Angehörigen. Ich lag im Bett und wartete, dass die Zeit verging. Oder ich saß im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerteppich und blätterte in schon tausendmal gelesenen Comics: Jo-Jo und Schnief und Schnuff, Die blauen Boys Achille Talon Lucky Luke. Im Haus roch es nach Putzmittel, von draußen fiel kaltes, hartes Licht herein, und die Stille erfüllte es mit einem bedrohlichen Geräusch.
    Auch über die Abende muss ich sprechen, über die Hausaufgaben in der Küche, die sich drehenden Ventile und den allgegenwärtigen Suppengeruch. Die Fernsehshow Les Chiffres et les Lettres in Zimmerlautstärke, Tiere unserer Welt am Sonntagabend, den Zucchiniauflauf im Ofen. Mathe und Grammatik. Auswendiglernen, Löschpapier. Schutzumschläge. Und meine Mutter, das Eisen in der Hand, hinter ihrem Bügelbrett im Wohnzimmer. Von Zeit zu Zeit schaue ich sie an, ich kann sie von meinem Platz aus sehen. Ihr Blick wird starr, und plötzlich hebt sie das Bügeleisen waagrecht an und verharrt mehrere Sekunden, die Stunden dauern, in dieser Position, und auf mich wirkt es, als überlegte sie, ob sie das Eisen über den Stoff gleiten lassen oder auf ihr Gesicht drücken, ihre Haut, ihre Wangenknochen, ihre Augen und ihre Stirn versengen soll. Nachts hat mich über allzu viele Jahre regelmäßig das Bild ihres halb verschmorten, krebsroten Gesichts gequält.
    Und dann muss ich auch noch über ihre liebevollen Gesten sprechen, die lästig und maßlos waren und immer zur Unzeit kamen (genauso zur Unzeit und aus heiterem Himmel wie die Ohrfeigen, die Schreie, die Strafpredigten, die Erschöpfung, an der wir schuld waren, gütiger Gott, womit hatte sie solche Kinder verdient?, die Zusammenbrüche und auch das Gelächter, die seltenen Umarmungen und danach die Blicke, als fühlte sie sich bei einer Zärtlichkeit ertappt). Und über die Handvoll zwar nicht glücklicher, aber heiterer Bilder, die mir von ihr geblieben sind. Alle haben ironischerweise einen Bezug zum Meer. Es sind flüchtige Bilder, leicht und zart wie die Liebkosung einer Hand auf dem Gesicht. Sie verschmelzen mit ihrer Magerkeit in der letzten Zeit, die mir damals nicht bewusst war, mir auf den Fotos aber ins Auge springt. Sie verschmelzen mit ihrer Schweigsamkeit in den letzten Monaten, in denen sie ihr Zimmer kaum noch verließ. Meine Mutter aß nicht mehr, sie nahm unter dem Vorwand, beim Kochen genascht und »an diesem Abend keinen großen Hunger« zu haben, die Mahlzeiten nicht mehr gemeinsam mit uns ein. Wie mein Vater damit umging, weiß ich nicht. Zwang er sie zum Essen? Schleppte er sie zum Arzt? Befahl er ihr, auf ihre Gesundheit zu achten, sich zusammenzunehmen, aus ihrem Zimmer zu kommen und auf die mit Synthol getränkten Waschlappen zu verzichten, auszugehen und sich mit anderen Menschen zu treffen, »Aktivitäten« zu entwickeln, ins Kino zu gehen oder sich zu einem Töpfer-, Zeichen-, Patchwork-oder Seidenmalereikurs anzumelden, wie sie im Gemeindezentrum angeboten und auf den Plakaten beworben wurden, die an die hölzernen Telegrafenmasten mit den auf den Leitungen hockenden Vögeln geheftet waren, zu deren
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