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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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beiden Sessel. Wir hatten die Vorhänge nicht zugezogen, und gegen acht wurde es hell. Ich erinnere mich noch an das reine Licht und an unsere vom sonnenglänzenden Meer und grellen Weiß der Klippen geblendeten Augen. Maman, die ein Nachthemd in blassen Farben trug, stand als Erste auf, öffnete die Fenster und lehnte sich hinaus. Fröstelnd summte sie vor sich hin, sie ließ den Blick über den Strand schweifen, zündete sich eine Zigarette nach der anderen an und berauschte sich am strahlenden Morgen.
    In den zwei Tagen in Étretat verließ sie das Zimmer nicht. Sie saß Tee trinkend auf dem Balkon, ein Buch oder vielleicht auch eine Zeitschrift auf den Knien. Mit zusammengekniffenen Augen suchte sie den Horizont ab. Ab und zu stand sie auf, schlenderte durchs Zimmer und ließ ihre unverletzte Hand mal locker herabhängen, mal schwerelos auf dem Holz der Möbel oder unserem zerzausten Haar verweilen, während mein Bruder und ich Galgenmännchen und Stadt-Land-Fluss spielten.
    Am ersten Tag ging mein Vater mittags mit meinem Bruder einkaufen, damit wir uns belegte Brote machen konnten. Tags darauf begleitete ich ihn. Die vom Meer zurückgesetzten Straßen waren dunkel, die Hauswände verputzt und mit Holz verziert. Die Nachmittage verbrachten wir am Strand, aber manchmal gingen wir auch auf den Wegen spazieren. Im Westen, in Richtung Le Havre, erstreckte sich die niedrige, noch nicht vom Golf verschlungene Heide. Wir kamen an Wiesen vorbei, über die Kaninchen hoppelten, beugten uns über Abgründe, um den Schwindel zu spüren. Nach Osten hin dehnten sich Felder mit wiederkäuenden Kühen, und die Kapelle thronte über dem Dorf. Ich erinnere mich nicht mehr an das Gesicht oder die Reaktion meines Vaters, wenn meine Mutter sich weigerte, mit uns zu kommen, sie blieb lieber im Hotel, um eine Siesta zu machen oder einfach nur zu lesen. Ich erinnere mich nur an die Drehung des Schlüssels, der sie im Zimmer einschloss, an unsere stummen Spaziergänge, den Wind und die Angst, die mich quälte, sie könnte bei unserer Rückkehr nicht mehr da sein. Wir kamen im Abendlicht zurück, und sie war da, wie hätte es auch anders sein sollen, wie hätte sie entschwinden, sich verflüchtigen, in Luft auflösen sollen? Sie lag bei halb geschlossenen Vorhängen mitten auf dem Bett und winkte uns zu sich, wir schmiegten uns an sie, sie drückte uns und sang leise vor sich hin, und plötzlich war ich höchstens vier. Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich im Wasser, milderten das Weiß der umliegenden Felsen, färbten sie gelblich. Maman war die ganze Zeit über sehr ruhig und still, bestimmt war sie von den Medikamenten benommen.
    Von der dritten Nacht ist mir das deutliche, wenn auch rekonstruierte Bild des in die Nacht stürzenden Körpers meiner Mutter in Erinnerung geblieben. In unsere Windjacken und mehrere Decken eingehüllt, schliefen Antoine und ich, vom Bauch des Meeres verschluckt, auf dem Balkon. Der Himmel war sternenlos, undurchdringlich und schwarz, die Nacht nur in der Nähe der Straßenlaternen etwas heller. Ich weiß noch, dass ich in dieser Nacht so stark wie noch nie das Gefühl hatte, dass das Meer in dem Maß anschwoll, grollte und brüllte, wie alles ringsumher in Schlaf versank, es erfüllte den Raum und bedeckte die Welt. Unter dem abwesenden Mond verließ meine Mutter das Bett, in dem mein Vater schnarchte. Leise drehte sie den Schlüssel um. Sie ging den langen Strand entlang, und wir sahen sie nicht. Sie war barfuß, durchscheinend und mit einem langen Hemd bekleidet, so wie sie manchmal durch die Straßen unseres Viertels schlafwandelte. (Wie sie marschiere heute auch ich oft durch die Nacht, irre blind zwischen den Bäumen umher oder am Meer entlang, und dabei streichen meine Hände über Baumrinde, werden meine Fußknöchel von Brombeerranken und Heidekraut zerkratzt, und meine Haut ist feucht und eiskalt, ohne dass ich wüsste, warum, während um mich herum wassersatte Gerüche aufsteigen. Zu den Nachbarn sagte mein Vater immer, sie sei Schlafwandlerin, und ich glaubte es. Aber diese Lüge beruhigte mich nicht etwa, sondern löste in mir furchtbare Angst aus, denn es kursierten seltsame Geschichten, wonach man sie womöglich tötete, wenn man sie weckte.) Finster und steil stieg der Pfad an, meine Mutter tastete sich voran, aus dem Boden ragten Steine, und schon bald waren ihre Beine von Schürfwunden, Blut und Erde bedeckt. Zwei Schritt vom Abgrund beugte sie sich über das schwarze Wasser, über das
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