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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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neben ihr im Wohnzimmer, als sie es tat. Ich hockte auf dem hellbraunen Teppich und malte etwas auf dem niedrigen Tisch. Sie bügelte im trüben Morgenlicht, der Fernseher lief, aber niemand sah hin. Lange starrten ihre Augen auf das Fenster und den Garten dahinter, auf den von kranken Thujen umgebenen Rasen. Als ich einmal aufblickte, stand sie reglos da, die rechte Hand in der Luft und das Bügeleisen waagrecht in der Schwebe, wie so oft am Abend, wie in meinen finstersten Träumen. Ihre linke Hand lag flach auf dem Bügelbrett, das mit einem grünen Schaumstoffbezug mit großen orangefarbenen Blumen bespannt war. Ganz langsam führte sie das Bügeleisen zu ihrer Hand, und ich erstarrte. Ich wollte schreien, aber es kam kein Laut heraus. Sie drückte es darauf, und ihr Mund verzog sich zu einer Grimasse. Die Haut begann zu schmoren, zu schmelzen und verbreitete im Zimmer einen Geruch nach verbranntem Fleisch. Maman blieb still, stoisch, bis auf ihr schmerzverzerrtes Gesicht. Die Zeit zog sich endlos hin, jede Sekunde erschien mir so lang wie ein Tag. Vor meinen Augen lief ein Film in Zeitlupe ab, aber meine Mutter war nur ein Schatten auf der Leinwand. Antoine kam herein, ich sah ihn weinend an, zu mehr war ich nicht fähig. Er schrie auf und stürzte zu ihr. Sie fiel wie tot in seine Arme. Er küsste sie auf die Augen und auf die Stirn, drückte sie an sich und wiegte sie, wie man ein Kind tröstet, wenn es Kummer hat. Ich hörte ihn unsinnige Sätze und Gebete stammeln. Ich selbst war nicht zur geringsten Bewegung imstande.
    Der Notarzt kam und brachte meine Mutter in die Salpetrière, in die Abteilung für schwere Verbrennungen; anschließend wurde sie in eine psychiatrische Klinik irgendwo im Departement Essonne eingeliefert. Sechs Monate sah ich sie nicht. Bis zu dem Tag, an dem wir sie abholten, mein Vater, Antoine und ich. An dem wir nachts im stillen Auto nach Étretat mit seinen Steilküsten fuhren, als begleiteten wir sie in einem seltsamen Trauerzug zu ihrem eigenen Tod.
     
     
     
     
     
     
    Über meine Mutter vor meiner Geburt weiß ich nichts oder nur sehr wenig. Auch nichts über ihre Jugend oder darüber, wie sie meinen Vater kennenlernte. Ich weiß auch nichts Genaueres darüber, warum sie von Aveyron, wo sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte, an die Porte d’Orléans zogen. Ihre Eltern hatten dort eine winzige Wohnung im sechsten Stock eines roten Backsteinhauses gemietet. Wir kamen manchmal, selten, daran vorbei, wenn wir nach Paris fuhren, um uns einen Belmondo, einen Pierre Richard oder die Weihnachtsbeleuchtung anzusehen. Sie zeigte uns dann zwei Fenster und erzählte immer dieselbe Geschichte, der zufolge sie für die Hausaufgaben ein Holzbrett aufs Waschbecken legte und es so in einen behelfsmäßigen Schreibtisch verwandelte. Sie erklärte auch, dass sie nach dem, was sie geheimnisvoll den Ruin ihres Vaters nannte, zu viert in einem Zimmer gewohnt hatten. Ich habe keine Ahnung, was für eine Art von Geschäften ihr Vater gemacht hatte und womit er den Lebensunterhalt verdiente, nachdem sie missglückt waren. Ich habe auch keine Ahnung, in welchem Alter sie die Schule und die elterliche Wohnung verlassen hatte, ob sie das Abitur gemacht hatte oder nicht, ob sie überhaupt angetreten war. Ich war zu jung, um mich für diese Dinge zu interessieren. Ich habe erst sehr viel später angefangen, mir diese Fragen zu stellen, als ich schon keine Möglichkeit mehr hatte, eine Antwort darauf zu finden. Seither verzichte ich darauf, die Lücken auffüllen zu wollen. Im Grunde befindet sich das, was ich über meine Mutter weiß, ganz woanders, in meinem Bauch und meinem Blut, unter jedem Quadratzentimeter meiner Haut.
    Nach ihrem Tod war sie weiter bei mir, lebte weiterhin mit mir und sättigte jeden Augenblick mit ihrer Gegenwart, jede Parzelle der Luft mit ihrer Erinnerung und dem Mysterium meines lückenhaften Gedächtnisses. Lange Zeit besuchte sie mich, tagsüber und auch nachts, und manchmal tut sie es heute noch. In den ersten Jahren gingen ihre beinahe täglichen Erscheinungen über den bloßen Bereich der Träume und Albträume, der Erinnerungen und des Gedenkens hinaus und nahmen die Gestalt von Halluzinationen an.
    Natürlich träumte ich auch von ihr, und im Traum lebte sie, sprach zu mir, lächelte mir zu, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her in den Wald, wo es kurz nach dem Regen von den Bäumen tropfte, und sie stellte sich auf die
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