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Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)

Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)

Titel: Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
Autoren: Julia Schramm
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wirklich getan hatten. Ich erinnere mich kaum noch daran, ob ich betroffen war, ob ich mich schämte oder innerlich widersprach. Jedenfalls war dieses Gespräch der Startschuss für ein unbändiges Interesse an Nationalsozialismus und Holocaust. Ich las von Dachböden, rosa Kaninchen und Massengräbern. Von Gaskammern und Panzern. Ich sprach mit meiner Großmutter, die mir von Essensmarken und Bombenlärm erzählte, von ihrer toten Familie. Niemals redeten wir über das, was ich erst Jahre später erfahren sollte, als ich ein Foto meines Großvaters in Uniform sah, mit einem Hakenkreuz auf der Armbinde.
    Zunächst reichten Gespräche und Bücher, um mei nen Wissensdurst zu stillen, doch irgendwann – im mer noch lang bevor dieses Kapitel der deutschen Geschichte im Schulunterricht auftauchte – begann ich, alle Fragen zuallererst dem Internet zu stellen. Ich surfte in den langsamen Sphären des sich entwickelnden WWW und stieß dabei nicht nur auf die Nazis, die sich mittlerweile in meinem Kopf zum »Inbegriff des Bösen« gemausert hatten. Ich fand Seiten, die sich ausschließlich mit Massenmördern beschäftigten, und fragte mich: Wer waren diese Menschen? Was hatten sie getan? Und wer waren ihre Opfer? Wie waren sie so geworden, wie sie waren? Wie hatten sie einfach Menschen töten können? Warum?
    Mit einem Klick war chloe.f.f.w im Kopf von Jack the Ripper. Sie wanderte nachts mit ihm durch die dunklen Gassen des heruntergekommenen Londoner Stadtteils Whitechapel, auf der Suche nach jungen Prostituierten. Jahrelang war das Bild eines huschenden schwarzen Umhangs immer wieder in ihren Albträumen vertreten. Auch den Leben der Straßendirnen spürte sie nach, wie sie in den dreckigen Etablissements ihren Lebensunterhalt zu verdienen versuchten. Wie sie mit alten, widerlichen Männern Dinge tun mussten, die sie nicht tun wollten.
    Ihr Ekel gegenüber diesen Männern, auch gegen Jack the Ripper, der einer von ihnen war, verstieg sich bei ihr nicht selten zu körperlichen Reaktionen, zu Angst in der Nacht oder Furcht vor Männern. Ihr eigener Körper wurde ihr unheimlich. Nächtelang lag sie wach und versuchte zu verstehen, wie eine Welt ausgesehen haben mochte, in der ein Mädchen wie sie keine eigenen Entscheidungen treffen durfte. Die Faszination für Whitechapel und die damit verbundenen Abgründe ließen sie nicht los. Doch warum Whitechapel? Was war das für eine Gesellschaft? Sie klickte sich also weiter durch das historische Schwarzbuch der westlichen Moderne, saugte Informationen auf, ohne die Zusammenhänge zu verstehen, ohne sie sich merken zu können.
    Sie stopfte sich Informationen in den Kopf, welche mal hängen blieben, mal unverdaut wieder ausgespuckt wurden . Sie stieß auf Frankreich und dessen koloniale Vergangenheit. Ihr Zorn, ihre Angst vor Ausbeutung, Krieg und Ungerechtigkeit wuchsen mit jedem weiteren Klick und Blick auf eine Geschichte, die sie sich anzueignen hatte, wollte sie ohne Ignoranz in ihr leben, wollte sie in einer freien Welt leben.
    Das England des 19. Jahrhunderts kannte sie aus Gemälden, bald schon verfolgten sie jedoch Fotografien der Kriege des 20. Jahrhunderts. Immer und immer wieder betrachtete sie tote Menschenkörper, ausgezehrt, zerschlagen und voller Verzweiflung im Ausdruck. Das Leid machte sie betroffen und nährte ihren Gerechtigkeitssinn. Wer waren die Menschen, die Schuld an diesem Leid hatten? Sie spürte den Lebensläufen der Täter nach, untersuchte ihre Sozialisation, ihre Erlebnisse, ihre Überzeugungen. Warum?, pochte es unaufhörlich in ihrem Kopf. Warum?
    chloe.f.f.ws Wissensdurst trieb sie noch tiefer in die virtuellen Abgründe, denn sie lernte: Es ist alles im Internet. Es ist da, du musst es nur suchen. Und finden. Das Internet beantwortet Fragen und stellt gleichzeitig neue. Es inspiriert zu Entdeckungen. Jeden Tag setzte sie sich an den Computer im Keller, klickte eine Verbindung zum Internet, öffnete den Browser und tippte Begriffe und Fragen in die Suchmaschine, die ihr einfielen. Und bekam Antworten. Diese eine Ver bindung war alles, was sie brauchte. Anschalten, anklicken, verbinden, Dinge eintippen. Und eine aufregende Welt erleben. Danke, liebes Internet!
    Fünfzehn Jahre später gehe ich zu einer Podiumsdiskussion über Jugendschutz im Internet. Als Zuschauerin. Mortensen sitzt auf dem Podium.
    Hastig teile ich meinem digitalen Schwarm mit:
    Die Kommission für Jugendmedienschutz der Lan desmedienanstalten (KJM) hat geladen. Mal schauen, wann
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