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Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)

Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)

Titel: Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
Autoren: Julia Schramm
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Schloss. Einmal las ihre Mutter darin, versuchte einen Blick in die Seele der früh pubertierenden Tochter zu werfen.
    Schon damals begann in chloe.f.f.w die Vermutung zu reifen, dass geheime Gedanken nur in ihrem Kopf geheim sind, dass sie nur so lange geheim sind, solange sie nicht aufgeschrieben sind. Kurze Zeit später tippte chloe.f.f.w die ersten Seelenschmerzen in die Tasten und suchte in Foren wie http://www.kummer-sorgen-forum.de Menschen, die ähnlich verloren waren wie sie.
    Noch hatte kaum jemand dieses Biotop der freien Gedanken entdeckt, noch konnte sie ihren Herz schmerz unbesorgt und anonym in die digitale Welt schreien. Wenn sie verliebt war, versteckte sie ihre Sehnsucht auf irgendwelchen Internetseiten, die niemand finden sollte, der sie kennt. Die unerreichbare Liebe nicht, die, die sie verspotten oder bloßstellen wollten, auch nicht. Und dennoch hatte sie die Hoffnung, Leser zu gewinnen, die ihre Worte betroffen machten, die ihr Mut zusprechen konnten, weil sie sich genauso fühlten. Und das passierte regelmäßig.
    Was denken Fremde, wenn sie einen Blick auf meine Seele werfen dürfen, ohne mich und meinen Kontext zu kennen? Geheime Gedanken sind nur im Kopf geheim. Oder auf unbekannten Internetseiten.
    Über die Zeit ist im Internet ein virtuelles Tagebuch entstanden. Bei Weitem nicht alle Einträge sind nachvollziehbar, nur ich weiß, wo ich sie finden kann. Ich schwelge in den Gemütszuständen meiner Vergangenheit und durchforste mein digitalisiertes Innenleben. Klicke ich mich durch mein altes Ich, erschrecke ich angesichts der Tatsache, dass mein heutiges Ich diesen Gedanken so fern und gleichzeitig so nah ist. Soll ich alle Einträge auf meinem jetzigen Blog veröffentlichen? Sind mir jades Ergüsse aus dem Jahr 2007 peinlich?
    So geht es nicht weiter! Ich muss was tun. anx ist mir keine große Hilfe. Er weiß so gut wie ich, dass wir unser Leben verschwenden. Wir leben das Leben einer digitalen Boheme mit dem Geld der Eltern oder ab und an sogar einem Job. Wir leben frei und doch immer unterhalb unserer Möglichkeiten. Ohne äußeren Zwang. Wir nehmen Drogen und feiern die Nächte durch. Wir schlafen am Tag und sind stolz darauf, dass wir unser Leben verprokrastinieren. Dabei scheuen wir Verantwortung. Warum auch nicht? Es geht ja. Ich fühle mich oft an wohlhabende Kinder einer anderen Zeit erinnert, die den Reichtum der Eltern verprassten, in Casinos, in Opiumhöhlen. So sind wir. Aber wir sind viel mehr. Wir sind nicht mehr die armen Kinder reicher Eltern. Wir sind die Mehrheit.
    In einer Welt, in der alles relativ ist, gibt es nur die Resonanz anderer Menschen. Und sei sie noch so negativ. Nur sie ist noch greifbar, wenn nichts mehr bestimmt ist. Die Reaktionen auf die eigenen Geständnisse, auch die abgründigen, die fiesen, die beleidigenden, erinnerten jade daran, dass sie lebt. Sie sind die Brüche im Dunst der Beliebigkeit. jade befindet sich irgendwo zwischen Aufmerksamkeitssucht, der Bestätigung, dass sie nicht verrückt ist, und dem Glauben an die größte Selbstlüge: Je mehr ich von mir preisgebe, desto eher verstehen mich die Menschen, verstehe ich mich selbst. Die eigenen Sorgen in die digitale Welt zu schreiben kann sehr wohltuend sein. Teilen macht Sorgen nicht weniger, aber doch deutlich erträglicher. Denn alles Geschriebene steht immer in Bezug zu anderen, die verstehen und auffangen.
    Ich weiß, dass das alles schon geschrieben wurde. Aber es ist immer noch wahr. Die Sehnsucht nach Strukturen, die Orientierung geben – sie verfolgt uns. Und ein Monitor gibt mehr Struktur als die Realität.
    Ich frage mich, ob diese Form der Blog-Therapie wirklich notwendig ist, ob man sich nicht einreiht in eine Betroffenheitskultur, die sich nur am eigenen Ich und den individuell auftretenden Leiden ergötzt, sich im Unschönen der Vergangenheit vergisst. Zugleich hielt jade offline die Angst, Menschen zur Last zu fallen, davon ab, über das zu sprechen, was sie wirklich umtrieb.
    Nicht darüber zu sprechen, was einen wirklich berührt, macht krank, und im weltweiten Informationsnetz bricht dieses Kranksein aus. Gnadenlos. Deswegen sind die Plattformen, die Menschen vernetzen, auch so beliebt. Sie sind ein Sammelbecken für die Herumtreiber, deren Seele nach Mehrsamkeit sucht.
    Kann man alles veröffentlichen? Wird die Selbstbeobachtung nicht vielmehr zum Zwang? Es gibt nur Schwarz und Weiß im gnadenlosen Scheinwerferlicht der Internetöffentlichkeit, sei sie noch so
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