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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor
Autoren: Die Tagebücher
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entlassen. – In der Am 2 Mai, bei der ersten Vorlesung, wird es sich wohl entscheiden, ob ich im Amt bleibe. –
    Inzwischen weiteres Bemühen um einen Kleinbau in Dölzschen. Letzte eigene Reserve an Einfriedigung gesetzt. Damit wird jetzt begonnen. Gestern wurde umgepflügt. * Der Bauer, das Gespann, 8 Stunden Arbeit: 20 M. Für den Zaun sind 625 M. zu zahlen. Dölzschen verlangt sofort die Kosten des Schleusenbaus: 340 M. Zusammen eintausend Mark – letzte Reserve.
    Zwischen Wirtschaft, Baugeschichte (endloses Bemühen, Conferieren, Brüten) sammle ich mich mühselig zu einer Arbeit, an deren Druck oder Verwertung im Colleg ich kaum noch glaube. [(]Cap II 1 vom Frankreichbild ist jetzt endlich auf Stapel.)
    Zeitungen werden jetzt anders gelesen u. – einige ganz wenige, Voß. Ztg. 3 z.B. – geschrieben als vordem. Zwischen den Zeilen. Kunst des 18 Jh. s, Kunst des Schreibenden u. Lesenden, erwacht wieder.
    Es ist nie so viel Schande auf ein europäisches Volk concentriert worden wie jetzt auf uns. Jede Rede des * Kanzlers, der Minister, Commissare. Und sie reden täglich. Ein solches Gebräu der offensten, plumpesten Lügen, Heucheleien, Phrasen, Unsinnigkeiten. Und immer das Drohen, das Triumphieren u. das leere Versprechen.
     

 
    Montag 10. März April .
    Die entsetzliche Stimmung des Hurrah, ich lebe. Das neue Beamten-Gesetz 1 läßt mich als Frontkämpfer 2 im Amt – wahrscheinlich wenigstens u. vorläufig. (Übrigens bleiben auch * Dember u. * Blumenfeld verschont – wahrscheinlich wenigstens). Aber ringsum Hetze, Elend, zitternde Angst. Ein Vetter Dembers, Arzt in Berlin, aus der Sprechstunde geholt, im Hemd u. schwer mißhandelt ins Humboldtkrankenhaus gebracht, dort 45 Jahre alt . * Frau D. erzählt es uns flüsternd bei geschlossener Tür. Sie verbreitet damit ja Greuelnachrichten, unwahre natürlich.
    Wir sind jetzt des öftern B oben. Unser Acker soll jetzt seinen Zaun erhalten, wir haben 7 Kirschbäume bestellt u. 10 Stachelbeersträucher. Ich zwinge mich so leidenschaftlich zu tun als ob ich an den Hausbau glaube, daß ich mir auf * Couésche Art 3 ein bißchen Glauben einzwinge u. derart * Evas Stimmung zu stützen vermag. Aber es geht nicht immer, u. es steht schlecht um Eva, der die politische Katastrophe furchtbar nahe geht. (Manchmal, auf Augenblicke, habe ich aber fast die Empfindung, als wenn der große allgemeinere Haß sie ein wenig über die Veranntheit in ihr Einzelleiden erhöbe, als wenn er ihr Momente neuen Lebenswillens gebe. Es ist etwas da, wovor sie nicht capitulieren u. das sie überleben will.[)]
    Der Mensch ist schlecht. Mein ganz unwillkürliches Empfinden, als ich erfuhr, daß auch * Dember u. * Blumenfeld der Vernichtung entgehen durften, war eine Art Enttäuschung. So wie man enttäuscht ist, wenn ein Aufgegebener nun doch mit dem Leben davon komt. Aber sehr wahrscheinlich ist, daß wir noch alle daran glauben müssen. Übrigens der menschliche Zynismus. Wir sagten: wir allein sind ganz verloren, wenn ich das Amt verliere. Ein Physiker u. ein Ingenieur u. Psychotechniker schlüpfen noch immer unter. * Emita Dember sagte: Blumenfeld käme doch leichter unter als wir. (Am Telephon). Blumenfeld sagte mir (am Telephon); Du hättest doch in Frankreich einen Posten gefunden.
    Vor zwei Tagen kam das Statthaltergesetz 4 heraus. Kurz vor dem 5 März hiess es noch in Bayern: Einen Reichscomissar würden wir an der Grenze verhaften. Und jetzt schweigt alles. Und * Hitler spricht im Rundfunk vor allen im Appell angetretenen SA Leuten, vor über 500 000 Soldaten des braunen Heeres.
    B * Annemarie Köhler war gestern Abend bei [uns]. Erfüllt von äußerster Erbitterung. Sie erzählt, wie fanatisiert die Schwestern u. Wärter ihres Krankenhauses sind. Sie sitzen um den Lautsprecher. Wenn das * Horst Wessellied gesungen wird (jeden Abend u. auch sonst) stehen sie auf u. erheben den Arm zum NS.-Gruß. –
    Lectüre der sehr interessante * Bismarck von * Ludwig. – Frankreichbild wird nur ganz, ganz langsam. Es zerrt zu viel an mir, u. ich bin zu hoffnungslos.
    Von meinen Angehörigen höre ich nichts, nichts von * * * * * * Meyerhofs. 1 Niemand wagt zu schreiben. – Auch sonst keine Post, beruflich bin ich mattgesetzt.
    Man ist artfremd, oder Jude bei 25 % jüdischen Blutes, wenn ein Teil der Großeltern Jude war. Wie im Spanien des 15. Jh. s aber damals ging es um den Glauben. Heute ist es Zoologie + Geschäft.
     

 
    12. März April Mittwoch Abend .
    Nachmittags – schöner
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