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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor
Autoren: Die Tagebücher
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Offizier endlich auf, klopfte mich freundlich begönnernd auf die Schulter u. ging. Die Geschichte, verbunden mit alledem, was ich nun schon von selbstverständlichen Plünderungen u. Vergewaltigungen gehört, war mir doch reichlich peinlich – ganz soweit ab von der Gestapoverhaftung auf der Tram 9 – ich will ihn mal flöhen! – hatte sie ja schließlich nicht gelegen. – An die Gaststube stieß ein Saal mit Bühne oder Kapellenraum, wie wir ihn schon oft gesehen. Dieser war offenbar schon vor längerer Zeit als eine Art Hilfskaserne eingerichtet worden: außer etwa 20 zweistöckig angeordneten Bettschragen, in denen aber nur noch unbezogene Strohmatratzen lagen, enthielt er Militär-Kleiderschränke u. einen langen Tisch. Es schliefen im Augenblick nur ganz wenige Soldaten dort; wir legten uns in allen Kleidern unter unsere Mäntel u. verbrachten die Nacht. An Waschen war nicht zu denken; es gab keine erreichbare Pumpe, u. das Wasser galt als typhusgefährlich. – Am Sonnabend 9. Juni war ich sehr zeitig, wohl vor 5 h, munter u. setzte mich mit dieser Schreiberei an einen Fenstertisch des Gastzimmers. Nach einer Weile klopfte es herrisch ans Fenster, draußen stand ein russ. Soldat u. verlangte mit energischsten Gestikulationen u. Stimmaufwand Einlaß. Die Haustür war verschlossen, niemand wach, ich konnte nicht öffnen, niemand zeigte sich. Ich trat schließlich in die Unsichtbarkeit des Saals zurück, ein wachgewordener Soldat murrte, wie ich so unvorsichtig hätte sein können, mich am Fenster zu [zeigen], es könne uns alle in Ungelegenheiten stürzen. Als der Iwan sein Lärmen nach einiger Zeit aufgab, holte ich in gebückter Stellung Mäntel u. Gepäck wieder ins schützende Dunkel eines unteren Bettschragens u. schrieb noch eine Weile am Saaltisch. Mir war recht übel zumute. Was ich bisher von bei den Russen erlebt, sah nicht nach persönlicher Freiheit u. Sicherheit aus.
    Dieser letzte Reisetag und -Abschnitt, Sonnabend d. 9. Juni, Chemnitz/Hilbersdorf gestaltete sich besonders anstrengend. Ich ging nach dem Frühstück – Kaffee u. trockenes Brod, die einzige Mahlzeit dieses Tages – zum Bahnhof: schon jetzt lagerte dort ein ungeheurer Flüchtlingshaufen in den Bhfsdurchgängen u. längs der Gleise. Ich fragte am Schalter, ob man (wie in Schönheiderhammer) von Fahrkarten zweiter Klasse irgendwelche Vorteile habe. Kommunistisch entrüstetes Lachen: das sei ganz gleich, ich sollte froh sein, wenn ich in einem Güterwagen Platz fände. Wann der Zug abgehe? Unbestimmt – irgendwann am Nachmittag. Ich löste also Karten 3. Klasse – es wäre gar nicht nötig gewesen, die meisten Leute kämpften u. fuhren ohne Billet – u. ging sehr skeptisch u. deprimiert zu * E. zurück. Wir beschlossen Nachmittags unser Heil zu versuchen, im Fall des Mißlingens aber sofort die Rückwanderung zu Fuß anzutreten: die Fahrkarte registrierte 74 km bis Dr.-Plauen. Ich verbrachte den größten Teil des Vormittags bei einem Friseur, der mir die Haare schnitt u. mich rasierte (aus Gnade, da ich ja keine Seife u. Wäsche mitgebracht hatte). Darauf folgte eine vergebliche Suche nach einem Mittagbrod, weder in unserm noch in irgendeinem andern Restaurant noch bei Privaten ließ es sich auftreiben. Etwa um 2 Uhr gingen wir resigniert auf den Bahnhof, setzten uns zwischen die Völkerwanderung u. aßen von unserm trockenen Brod. Ein älterer Eisenbahner ging beruhigend hin u. her: alle würden mitkomen, Frauen, Kinder, alte Leute als erste einsteigen dürfen, der Rest könne zur Not auf die Dächer klettern. Der Zug kam gegen 4, ein endlos langer Güterzug; er kam überfüllt an – Pendelverkehr –, u. noch während des Aussteigens u. Ausladens begann das Einsteigen. Wir hatten für uns das Recht der Alten in Anspruch genomen – wie oft unterwegs bin ich Vater, auch Großvater angeredet worden –, escaladierten aber unter den Ersten u. unberechtigt Zeitigen, sodaß mich irgendein Schaffner anbrüllte, er werde mich wieder hinauswerfen. Wir waren an einen Kalkgüterwagen geraten, dessen Deckung sich als Spitzdach aufrichtete, zu gebückter Haltung zwang u. den Ausblick verwehrte. Der Waggon wurde allmählich mit jeder Art Gepäck, Kisten, Kinderwagen, Handwagen so vollgestopft, es drängten sich so viele Menschen, in der Hauptsache Frauen u. Kinder, in alle Ritzen zwischen der Bagage u. auf alle Koffer u. Gepäckhügel, daß ich bald kaum noch die Füße rühren konnte. Natürlich gab es auch überall gereizte
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