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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor
Autoren: Die Tagebücher
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nada! Wir wanderten zu dem gegenüberbefindlichen Polizeibureau. Eine richtige und eine falsche Auskunft bei sehr freundlicher Aufnahme. Gehen Sie gleich nach Dölzschen! Ich wandte ein, es werde Zeit kosten, bis ich da in mein Haus käme. Der Beamte feixte: Sie wissen gar nicht, wie schnell das manchmal geht! Und damit hat er recht behalten. Wobei mir zugute kam, dass * Berger getürmt war .. Aber was den Hunger anlangte, so hiess es[,] im Flüchtlingslager Glacisstrasse würden wir beköstigt werden, und dort schliefen über verlassenen Räumen im Oberstock russische Posten. Der Weg war also ganz umsonst. Nun sagte uns jemand auf der Strasse, ein Lager befinde sich, ich glaube in der Markgrafenstr. Dorf fanden wir nur ein Lazarett aber wieder keine Verpflegstelle. Dann wanderten wir, immer nüchtern und nach der unmöglichen Nacht, durch all die Zerstörung zur Altstadt hinüber. In der Theaterstr. sollte eine Auskunftstelle über Einwohner und Ausgebombte sein. Sie war geschlossen. Dann schleppten wir uns – kein übertreibendes Verb! – zum Schweizer Viertel: das Haus der * Frau Ahrens, das Haus der * * Windes zerstört, keine Auskunft zu erlangen. Nur ein alter Mann, der seine Frau verloren, und dem Tags zuvor ein russischer Soldat seinen Hund geraubt hatte, gab mit Bestimmtheit an, daß die Ahrensleute gerettet seien (er wusste aber nicht, wohin). Schliesslich fanden wir, innen ein bisschen beschädigt, aber im Ganzen geradezu wunderbar zwischen lauter Ruinen erhalten, das * * Glasersche Haus. 1 Dies war die Wendung zum Märchen. Frau Gl. empfing uns mit Thränen und Küssen, sie hatte uns für tot gehalten. Er, Gl., war etwas klapprig und apathisch. Wir wurden gespeist, wir konnten uns ausruhen. Am späteren Nachmittag stiegen [wir] nach Dölzschen hinauf, und wie wir am ersten Tage Abend u. nachts * Kalaus Gäste waren, mit der Gewissheit, die nächste Nacht in unserm eigenen Hause zu schlafen, und wie uns nun in Dölzschen vom ersten Augenblick des Auftauchens an, also vom Sonntag d. 10. Juni an, das Märchen umgab, das alles habe ich notiert.
    Diesen Reisebericht habe ich endlich heute am 1. Juli zuende gebracht, vieles darin ist schon verschwommen vieles eingetrocknet.
     

 
    1. 7. 45.
     
    Die handschriftlichen Tgbblätter vom 8. u. 9. Juni gehören als Ergänzung zu diesem Maschinenbericht (bezeichnet mit a u. ß).
     
    Freitag früh ½ 5. 8 Juni 45. Schönheider Hammer. Garten oder Vorplatz des Carlshofes.
    Das Land ohne Dörfer oder die Dörfer ohne Bauernhöfe.
    Alles wiederholt sich, u. nichts wiederholt sich ganz so, wie es gewesen. Diese Nächte auf dem Boden der Wartesäle, Schulen, Gasthöfe, Vereinshäuser, auf nacktem Boden, auf Strohsäcken, auf Matratzen, den Rucksack als Kissen, den Mantel über oder unter mir, in stockiger Luft, in Kälte, frierend, verschwitzt und fröstelnd, bei Kinderschreien, bei Schnarchen und andern Geräuschen ... ich habe sie in den Wochen der Flucht u. der Rückwanderung gewiß ein Dutzendmal u. mehr durchlitten. Was ist heute das Besondere? Es sind nicht sehr viele Menschen im Saal u. auf der Bühne, aber ich liege besonders hart, fröstele in besonders verschwitzter Wäsche, schlafe besonders wenig u. sitze nun mit der Schreiberei am Gartentisch – neben mir schläft ein Soldat unter Fliegerschutzplane im Freien. Und das eigentlich Besondere ist wohl der quälende Hunger u. Durst.
    Seit Dienstag sind wir im Hungerland, seit unserer Ankunft in Falkenstein ist unser ganzes Tun u. Lassen vom Hunger bestimmt worden. Rübenschnitzel. Man gibt Kartoffelmarken ab, um deren Gültigkeit gekämpft wird, u. bekomt dafür einen Teller Rübenschnitzel, d.h. ein völlig geschmackloses Dörrgemüse. Das ist so im Café Mayer in Falkenstein, u. ebenso im Bären auf dem Rodewischer Markt, u. das ist die einzige Mahlzeit, die man sich um die Mittagszeit für den ganzen Tag erkaufen kann. Sonst nichts, in keinem Gasthof, in keinem Ort, nicht winmal eine Tasse Kaffee. Höchstens irgendwo ein dünnes Bier. Die Marken helfen nichts, es ist in den Läden nicht zu haben, die Marken verfallen von Ort zu Ort. Der Hunger wirkt weiter bestimmend, in Rodewisch sagt eine Frau: dort sei ein Bäcker, er habe zu, ich solle hintenherum zu ihm gehen. Wird es helfen? In Falkenstein ist alles am Vorm. ausverkauft, u. jetzt ist es zwei vorbei. – Er hat, es riecht nach Brod! – Es roch wirklich ungemein danach, u. er hatte u. war willig. Er sah aus wie * Salzburg, sächsischer Typ. Aber erst
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