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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor
Autoren: Die Tagebücher
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nur. * E. glaubte unter den Mädeln u. Huren schon den Übergang zu russischer Haartracht ( * Cléo de Mérode) 1 feststellen zu können, ich selbst hatte wiederholt den Eindruck, daß allerhand russische Civilverwaltung u. wohl auch Polizei unter den Gästen saß – aber das mag Autosuggestion gewesen sein. Mit Bestimtheit beobachtete ich an mir, daß dies Caféhausstreiben, die Wonne meiner Jugend, mich recht sehr anödete, daß ich mich ein bißchen schämte, weißhaarig unter all dem jungen Volk zu sitzen u wehmütig als gräßliche Variation oder übersteigernde Wiederholung zu constatieren, was die Jungen als etwas ganz Neues mit Entzücken aufnahmen (mit Händeklatschen u. cavaliersmäßig protzigem Zahlen – ich sah einen mir noch unbekannten 20 M-Schein der sächs. Staatsbank vom April 45, auch dies ein Anfang u. eine Wiederholung). – Bei alledem: ich hatte immerhin den momentanen Eindruck[,] aus dem Stromerleben aufgetaucht zu sein u. wieder zu den Freuden (wenn auch vorerst den verlogensten) der Civilisation zurückgekehrt zu sein. – Ich wurde sehr enttäuscht, u. es war wieder eine doppelte Enttäuschung. Ich belud mich, wir wanderten eine Weile durch die schwüle Hitze, fanden weiter draußen eine Trambahn, die bis zum Bahnhof Hilbersdorf ging, u. erfuhren dort (wo wieder ein Flüchtlingshaufen auf den Treppenstufen etc. campierte), daß der nächste Zug nach Dresden erst heute, etwa um 3 h Nachm. fahren werde. Aber gestern sei er erst um 7 h Abends abgegangen, u. immer sei er sehr überfüllt u. unregelmäßig. Welch vielfältige Calamität für uns! Hier ohne Marken u. soutien, 1 u. nachher, Sonnabend Nachts in Dresden gelandet, ebenfalls hilflos. Aber das ist nur die eine u. nur die guaio-Seite meiner Enttäuschung. Wir gingen ratlos u. übermüdet die Straße weiter hinaus u. stießen auf einen einfachen Gasthof. Es war drin in Gaststube u. Wohnstube ein sehr reges Leben, deutsches Militär, Civil u. russisches Militär durcheinander. Ich sah die Russen zum erstenmal, graugrün u. sportlich leicht gekleidet wie die Amerik., aber in Kitteln. Die Wirtin nahm uns seltsamerweise sogleich freundlich auf; wir sollten im Saal schlafen, er sei wenig besetzt, sie wolle uns auch Kaffee u. Kartoffeln kochen (ich gab ihr unsere Kartoffel- u. Urlaubermarken). Wirklich brachte sie uns nachher eine Schüssel Pellkartoffeln u. eine Kanne Kaffee, später sogar noch Bier, wir waren wie erlöst. Ein junger Mann, Verlader aus Duisburg, von seiner Familie getrennt, setzte sich zu uns.
    (Dölzschen 13. Juni) 2 Ich bekam die gleiche Schilderung der Russen, wie wiederholt vor- u. nachher: im nüchternen Zustand meist gutmütig, im betrunkenen wild. Plünderungen, Uhren- u. Schmuckdiebstahl, Vergewaltigungen häufig .. Bald danach kam jemand von den Wirtsleuten: die Russen wollten wissen, was für ein Professor ich sei, einer habe ganz aufgeregt gefragt, was das für ein Typ sei. Daß ich in dem armseligen Vorstadthôtel unter Landsern und Volk auffiel, verdanke ich kaum meinem bedeutenden Gesicht, viel eher dem hohen weißen Kragen, den ich am 15 Februar in Klotzsche gekauft u. immer vermieden hatte, u. den ich nun tragen mußte, da das Hemd mit dem weißen Umlegekragen gänzlich hinüber war: dieser bourgeoise Stehkragen u. dazu die zerschlissene Kleidung des Landstreichers u. der mehrtägige graue weiße Stoppelbart – es sah nach * Evas Wort aus wie die schlechte Verkleidung eines flüchtigen Bourgeois u. Antibolschewiken. Ein riesiger Kerl, Hauptmann wie ich nachher erfuhr, kam an mich heran u. sprach mich russisch an. Er rückte mir dicht auf den Leib, setzte sich derart an die Kante des Tisches u. Sophas, daß mir keinerlei Bewegung blieb u. sprach nicht unfreundlich aber sehr energisch u. eindringlich. Ich sagte: je ne comprends pas 3 – u. Ja Gewree 4 (wie mir * Eisenmann beigebracht), gab ihm meinen Paß, wies auf das J – er redete ungeduldig weiter. Endlich kam eine ältere Dame am Krückstock, Baltin die russisch verstand, u. machte die Dolmetscherin. Der Offizier wollte vor allem wissen, wann ich nach Deutschland gekommen sei. Es dauerte lange, bis ich den beiden klar gemacht, daß meine Familie seit 200 Jahren in Deutschland lebte, daß Landsberg a/W bis 1918 zur Provinz Brandenburg gehört. 5 Danach gab ich genaue Auskunft über meine Position vor u. nach 1933, sagte auch mit einigem Avec, 6 daß unsere Familie 3 * * Brockhausleute 7 gestellt u. daß * Georg Lenin behandelt habe. 8 Da stand der
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