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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen
Autoren: Dieter Moitzi
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Falltür.
    Wir nahmen die Leiter von der Wand, öffneten die Falltür und stiegen auf den Dachboden. Der Raum war groß und leer; er roch holzig und verlassen. Eine Staubwolke wirbelte in schrägen Sonnenstrahlstreifen auf. Das Licht kam durch eine kleine Dachluke herein.
    Claire war begeistert. Sie öffnete die Luke, ließ einen Schwall Frischluft durch den Raum wehen. »Hey, da ist eine Schiene! Und Stangen!«, rief sie. »Weißt du was? Setzen wir uns doch einfach aufs Dach!«
    Aber zuerst eilte ich hinunter und wieder zurück hinauf. Holte ein Tablett mit zwei Gläsern, einem Teller, der Flasche Champagner, einem Baguette, ein wenig Camembert, Roquefort, einem Messer. Als ich zurückkam, war Claire bereits aufs Dach geklettert. Ich folgte ihr. Wir setzten uns rittlings auf den Giebel, Claire öffnete die Flasche Champagner. Ich schnitt das Brot, schmierte etwas Käse auf die Scheiben, wir stießen an.
    Paris lag zu unseren Füßen ausgebreitet, eine ganze Welt von Dächern, Schornsteinen, Fernsehantennen, Straßen wie graue Fäden, ab und zu ein Baum. In der dunstigen Ferne blinkte der Eiffelturm mit stählernem Desinteresse. In nächster Nähe ragte das Sacré Cœur auf dem Montmartre empor. Es sah wie eine Hochzeitstorte, wie eine ramschige Disney-Kirche aus.
    Die Luft roch nach Autoabgasen. Eine leichte Brise führte uns den Geschmack des fernen Meeres zu. Der wolkenlose, blaue Himmel nahm uns wie eine Mutter auf. Wir waren ganz allein, nur ein paar Tauben gurrten in der Nähe. Claire saß mir gegenüber, mit dem Rücken gegen einen Schornstein gelehnt, der aus dem Dach herausstach. Wir tranken unseren Champagner, aßen unseren Käse und das Brot. Die Dämmerung sank langsam auf die Stadt herab, hüllte Dämmerlicht um unsere Schultern. Wir saßen noch lange da ohne zu sprechen, bis die Nacht hereinbrach. Wir genossen unser eigenes, privates Paris, dort oben, unter dem stummen, gelben Mond.

Der Spaziergang
     
    Neben der Métro-Station Marx Dormoy zeigen die Plakatständer Politikergesichter und Politikerparolen. Jeder verspricht eine bessere Zukunft für alle. Die rechtsextreme Kandidatin schränkt das natürlich auf die Franzosen ein. Ihr Gesicht ist zerkratzt, Beleidigungen sind über das ganze Plakat geschrieben. Autos dröhnen vorüber, Hupen ertönen, es wird gebremst, beschleunigt.
    Wir kommen an der Zigeunerin mit dem Kopftuch und dem geflickten Kleid vorbei, die auf dem Gehsteig sitzt. Eine Hand streckt sie den Passanten entgegen, in der anderen hält sie ein zweijähriges Mädchen. Ein Rumäne steht vor dem Supermarkt und versucht, »Le Lampadaire« zu verkaufen. Zwei alte Frauen plaudern miteinander und nähern sich langsam dem Supermarkteingang; jede zieht einen Einkaufswagen hinter sich her. Bei der Post biegen wir rechts ab und nehmen die Rue Ordener. Ein bärtiger Mann sitzt auf einer Bank und füttert Tauben. Als wir vorbeikommen, fliegen die Vögel mit Flügelrascheln in einer Feder- und Körnerwolke auf.
    Auf der Marcadet-Brücke, die die Nordbahntrasse überspannt, bleiben wir stehen, um einen Blick durch den Stacheldraht und die Eisenstäbe zu werfen. Unter dem Gewirr von Stromleitungen liegt ein beeindruckendes Kreuzmuster von Schienen, die hierhin und dorthin laufen, sich mischen, sich trennen, einander queren. Der Thalys-Hochgeschwindigkeitszug aus Brüssel braust zum nahe gelegenen Gare du Nord. Ein Lokalzug rollt gen Norden und verschwindet in der Ferne, wo die hohen Gebäude blasser und blasser, kleiner und kleiner werden, bis sie sich im Morgendunst der Vorstädte auflösen.
    Wir folgen der Rue Marcadet. Das Viertel sieht öde und alt aus, es riecht verlassen und arm. Die Menschen, die hier leben, sind vorwiegend Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien oder aus Afrika, Indien, Bangladesch, Pakistan. Man fühlt sich wie in einer anderen Welt an. Die Menschen, denen wir begegnen, sprechen arabisch und afrikanische oder asiatische Sprachen. Wir bewundern die schillernden Saris, die bunten, langen, weiten Kleider, die schwarzen, grauen und blauen Djellabas. Die Männer tragen traditionelle Kopfbedeckungen, die schwarzen Frauen künstlerisch drapierte Turbane.
    Manche Läden verkaufen gefärbte Stoffe und seltsame Kleidung, Boubous und weite Kaftane. Andere bieten DVDs und CDs von Sängern, Gruppen, Filmen an, deren Namen wir noch nie gehört haben. Dann gibt es welche, die exotische Früchte, Knollen und Wurzeln verkaufen. Die Straßen riechen nach fernen Ländern, nach Gewürzen und
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