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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen
Autoren: Dieter Moitzi
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Menschen behandeln …«
    Ich klinke mich aus, höre nicht mehr zu. Ich studiere den Métroplan, überprüfe, wie viel Stationen ich noch absitzen muss. Die zornige, irre Frau steigt schließlich in der Père-Lachaise-Station aus. Ich seufze. Und frage mich, ob es in der Nähe vom Père Lachaise ein Drogenzentrum gibt. Die Frau wird von einem Zigeuner mit Akkordeon ersetzt. Er beginnt ‚Kalinka’ zu spielen, eher schlecht.
    Ich stecke eine Hand in meine Jackentasche. Nein, kein Kleingeld.
    Er ist ohnehin ein mieser Musiker. Und es ist ein langweiliger Dienstagmorgen in der Pariser Métro.

»Remember me for what I was, not what I couldn’t be« [1] (Anne Clark)
     
    Das war ich. Was ich nicht sein konnte, was ich nicht sein kann, ist vielfältig. Was ich war, ist einzigartig. Hier ist die Momentaufnahme meiner Taufe in der Dorfkirche. Die ganze Familie steht in lockerer Gruppierung vor dem Kirchenportal. Ich bin sechs oder sieben Tage alt. Jeder sieht sorglos und glücklich aus, jeder ein strahlendes 70er-Jahre-Schwarz-weiß-Gespenst. Eine Großmutter hält mich in ihren Armen. Sie ist meine Patin, daher die Ehre, daher der Stolz, den ihr Gesicht deutlich widerspiegelt. Sie hält mich fest, sie hält mich sicher. Ein leichtes, wissendes Lächeln spielt um ihre Lippen.
    Rechts von ihr mein Vater im dunklen Anzug. Er ist dunkelhaarig, gutaussehend, schlank, wohl proportioniert, mit Muskeln unter dem schwarzen Stoff. Wie jung und schön er war! Halb über mich gebeugt, lacht er in die Kamera. Einer meiner winzigen Finger steckt in seiner großen Hand. Seine Zähne blinken, weiß und makellos.
    Zur Linken meiner Großmutter meine Mutter. Ihr Blick ist liebevoll auf den Kopf meines Vaters gerichtet. Sie sieht vernarrt aus. Wie um mich zu schützen, hat sie eine Hand auf meinen kahlen, glänzenden Kopf gelegt. Ihr Haar ist kurz und zu einem Bob geschnitten. Sie trägt einen Mini-Rock, eine weiße Bluse, eine leichte Jacke.
    Der Priester lehnt sich leicht an sie, die Hände gefaltet, als ob er betete. Ein weiterer Schutz für mich. Sein weises Gesicht ist zu einem rätselhaften Lächeln gekräuselt.
    Ganz vorn meine Cousins und Cousinen. Sie würden offensichtlich lieber herumlaufen, Cowboy und Indianer spielen. Stattdessen hat man von ihnen verlangt, in der Kirche still zu sitzen, während der Zeremonie den Mund zu halten, noch ein letztes Mal brav zu sein, so lange es eben dauert, bis das Foto geschossen ist. Eine Cousine hat ein zerkratztes Knie. Man muss schon genau hinschauen, um es unter ihrem kurzen, weißen Sonntagskleid zu sehen. Eine Blume steckt in ihrem Haar.
    Hinter der Patin und den Eltern die anderen Erwachsenen. Das ergraute Haar einer Tante steht hinter meinem Vater hervor. Ihr Blick ist fest und entschlossen und dynamisch. Sie hält meine einjährige Schwester auf einem Arm. Meine Schwester sieht nicht sehr belustigt aus, sie runzelt die Stirn.
    Der andere Arm meiner Tante liegt auf der Schulter meiner anderen Großmutter. Die alte Frau lehnt sich an meine Tante, hält einen Spazierstock in der Hand. Sie sieht klein und verletzlich aus, aber ihr Gesicht ist ernst und feierlich. Dann sind da noch die anderen Tanten, die anderen Onkel.
    Der Fotograf hat den einen Großvater entzweigeschnitten. Am rechten Rand sieht man nur die eine Hälfte seines Körpers, seines vorstehenden Bauches. Er steht gerade, aufrecht, strahlt vor Arbeiterstolz und zwinkert in die Kamera. Man muss schon raten, ob er es tut, weil ihn etwas amüsiert oder weil er in die Sonne blinzelt. Auf der anderen Seite mein zweiter Großvater. Diskret, als ob er zufällig zur Taufe eines Fremden gestoßen wäre. Als ob er mit dem Rest von uns nichts zu tun hätte.
    In der Mitte ein kleiner Wurm. Alle sagen, das war ich. Man hat mich in ein helles, farbiges Tuch gewickelt. Nur meine Hände und meine Glatze ragen aus dem Tuch. Ich scheine mich zu konzentrieren, scheine etwas Wesentliches zu meditieren, runzle mein fettes, kleines Gesicht vor Anstrengung. Aber wenn man genauer hinsieht, bemerkt man, dass ich tief schlafe und die ganze Aufregung und den Trubel, den sie alle machen, einfach ignoriere.
    [1] Auf Deutsch: »Erinnere dich daran, was ich war, und nicht daran, was ich nicht sein konnte«

Auf dem Dach
     
    Nachdem wir den Mietvertrag unserer Wohnung unterschrieben hatten, kauften Claire und ich eine Flasche Champagner. Als wir vom Supermarkt zurückkamen, entdeckten wir diese Leiter, die an der Flurwand hing, sowie am Plafond eine
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