Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
Vom Netzwerk:
pragmatischer Hinsicht‹,§ 61).
    Mit anderen Worten: »Der Schnee vor meinen Augen ist schwarz geworden« (so der niederländische Radprofi Hennie Kuiper). Theoretisch ist das auch für den Otto-Normal-Freak zu schaffen, praktisch wird er kaum so weit gehen, weil ihmder Anreiz des Wettkampfs fehlt, bei welchem männliche Primaten zu den absonderlichsten Höchstleistungen fähig sind. Aber sich kilometerlang hinziehende mehr als zehn Prozent Steigung können den Schnee zumindest leicht eingrauen. »Das ist auch eine Frage des Willens« (Jan Ullrich). Es ist nun mal nicht möglich, die erwähnten über zehn Prozent Steigung in einem halbwegs unpeinlichen Tempo zu fahren, ohne sich ein bisschen zu quälen. Man kommt als Nichtprofi ohne Schmerzen keinen Alpenpass hinauf.
    Mit noch anderen Worten: Der Schmerz ist zugleich Antipode und Matrix des Wohlseins. Das echte Vergnügen setzt die Kenntnis eines Phänomens namens Schmerz voraus. Schmerz und Lust gehören zusammen wie Yin und Yang. Die Überwindung Schmerz erzeugender Widerstände führt zum größten Glücksgefühl. Das ist in unserem Luxus-Zeitalter und unserem Luxus-Weltteil möglichst unpathetisch und im Sinne einer Ökologie der Leidenschaften zu verstehen, weshalb der Begriff Schmerz in diesem Zusammenhang auch durch den der harten Anstrengung ersetzt werden kann. So freut sich derjenige einer getanen Arbeit am meisten, der alles gegeben und es sich hat sauer werden lassen.
    Vom gewaltigen Panorama abgesehen, das man sich freilich auch auf anderem Wege verschaffen könnte, gibt es keinen ersichtlichen Grund, sich dort hochzuquälen – außer der Schinderei-Gutfühl-Spirale selber. Der nun drohende Befund, es handle sich ja wohl um eine Art Masochismus, lässt sich leicht mit dem Hinweis kontern, dass es schließlich um nichts Sexuelles geht und ansonsten nahezu jeder Sport masochistische Züge trägt (doch, doch, auch Golf, gerade Golf, denken Sie an die Gespräche). Außerdem: Ohne eine gewisse Selbstquälerei wären weder ›Der Ring des Nibelungen‹ noch Giottos Fresken noch die Allgemeine Relativitätstheorieentstanden.
Generell
lässt sich gegen Selbstquälerei nichts sagen; entscheidend ist, wie Helmut Kohl weise sprach, »was hinten bei rauskommt«. In unserem speziellen Fall tendiert der Nutzen für die Allgemeinheit freilich gen Null, und natürlich darf sich jedermann an den Kopf fassen; Lebensphilosophie ist halt Geschmackssache.
    Die temporäre Selbstquälerei endet sowohl bei geistigen als auch bei körperlichen Anstrengungen – und hierin besteht ihre Gemeinsamkeit – entweder im Triumph, weil man es geschafft hat, oder setzt sich fort in der Niedergeschlagenheit, versagt zu haben. Manche sind nie zufrieden mit sich und schieben ihre Grenzen immer weiter hinaus. Andere, zweifellos die Glücklicheren, können sich schon mal selber auf die Schulter klopfen und empfinden den zuletzt erbrachten Vitalitätsnachweis als ausreichend. Wenn dem Hinausschieben der Schmerz- und Leistungsgrenze keine Selbstbelohnung folgt, sondern die Selbstbestrafung in Gestalt des nächsten gesteckten Zieles, ist das zwar sehr abendländisch, sehr »faustisch«, aber auch ziemlich närrisch. Ich meinesteils setze auf tagesformunabhängige, also obligatorische kulinarische Selbstbelohnung. Fahrradfahren ist für mich der präludierende Teil eines Gesamtkunstwerkes, bei welchem auf die Strapaze die Schlemmerei mit derselben Unausweichlichkeit folgt wie der Donner dem Blitz. Nochmals, vielleicht etwas zu apodiktisch, Kant: »Vor jedem Vergnügen (muss) der Schmerz vorhergehen; der Schmerz ist immer das erste« (›Anthropologie‹, § 60). Mein Quasi-Masochismus schlägt abends in Hedonismus um, wobei ein Hedonismus, der unmittelbar auf der Selbstkasteiung fußt, letztlich nur das alte Motto: »Nach getaner Arbeit ist gut ruh’n« etwas überhöht. Mir ist durchaus bewusst, dass ich mich einem anderen Motto zufolge – nämlich: »Der Kluge sucht die Schmerzlosigkeit, aber nichtdie Lust« (Aristoteles, ›Nikomachische Ethik‹, VII, 12) –, hiermit als doppelter Knallkopf offenbare.
    Den Satz »Radfahren macht Spaß« werden Sie allerdings von mir nicht hören. Nicht weil Radfahren keinen Spaß machen würde, sondern weil der Begriff zu simpel und Spaß ein diskreditiertes Wort ist. Unter dem kleinsten gemeinsamen Nenner Spaß – neudeutsch: Fun – sammeln sich besonders die Fatzkes dieser Welt.
    Mit
Genuss
kann ich deutlich mehr anfangen. Genuss ist gewissermaßen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher