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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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Hand. Letztere empfinde ich nicht unbedingt hier am Schreibtisch, aber sobald ich einen Berg hinanfahre, ist sie da. Ein Experte hat ausgerechnet, dass die ausdauernde Tretleistung der Weltspitzenfahrer – um die 500 Watt (bei kurzen Sprints übrigens das Dreifache!) – ungefähr bedeutet, eine zehnprozentige Steigung mit zehn Stundenkilometern hinaufzufahren, allerdings mit zwei Zementsäcken à 50 Kilogramm auf dem Gepäckträger. Im Anschluss an ein Gespräch anno 2000, während dessen ich ihn mit Fragen nach Lance Armstrong und seinem Limit traktierte, hat mir Jan Ullrich angeboten, ich möge doch mal mit ihm trainieren, dann werde er mir zeigen, was Limitsei. Aus Rücksichtnahme bin ich nicht auf diese Offerte eingegangen; Ullrich hat sich auch so schon oft genug erkältet. Zur Herstellung von Waffengleichheit hätte er sich ein Bein auf den Rücken schnallen müssen. Wo bei mir die Grenze liegt, beginnt so einer erst, warm zu werden. Natürlich hätte es mich gereizt zu erfahren, was so eine Menschmaschine für einen Puls hat, wenn ich bei 180 bin. Andrerseits warf diese Offerte ein Problem auf, dem ich natürlich auch ohne sie begegnet wäre, nämlich inwieweit es statthaft ist, etwas als Passion einzustufen, das andere so unendlich viel besser können. Bringt man sich nicht um seine Selbstachtung damit?
    Hat, mag mancher einwenden, Passion etwa mit Können oder gar Professionalität zu tun, und nicht vielmehr mit Begeisterung, Leidenschaft, Hingabe, Freude im Sinne des Schiller’schen »Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«? Ich werde mir eine Antwort auf diese Frage bis fast zur allerletzten Seite verkneifen.
    Die extremen Leistungen der Spitzenfahrer gehören jedenfalls als eine Art Fanal untrennbar zur Faszination dieses Sports. Ohne sie wäre das Heer der Freizeitfahrer vermutlich nicht mal halb so groß. Dass immer wieder so genannte Doping-Sünder auffliegen, ändert daran wenig. Wenn Doping heißt, leistungsfördernde Mittel einzunehmen, dann dopen sie alle. Wenn Doping heißt,
verbotene
leistungsfördernde Mittel einzunehmen, tun es nur die Dummen. Marco Pantani bei seinem Sitzstreik während der 1998er Tour de France, mit Engelsmiene gegen das rabiate Vorgehen der Dopingfahnder protestierend – das ist im Nachhinein schon ein kurioses Bild. Aber am Berg war der Mann eine Sensation, und das hätte auch für Pantani minus Doping gegolten. Ich glaube auch nicht, dass Armstrongs singuläre Siegesserie entscheidend mit der Einnahme verbotener Mittel zu tunhat. Die Entdeckung von Epo hat die Geschichte des Radsports in ein Davor und ein Danach geteilt, aber ich möchte maßvoll bezweifeln, dass es viele Profis gibt, die im Davor verharrten. Wenn sie aber alle dasselbe nehmen, bleiben auch die Abstände dieselben (wenngleich womöglich manche Teams beim Doping begabter agieren als andere). Dass Armstrong bereit war, »pharmakologische Grauzonen auszuloten«, hat er zugegeben (›Jede Sekunde zählt‹, S. 98), aber das gilt, wie gesagt, für jeden Profi. Freilich hat Armstrong an derselben Stelle geschrieben: »Wer glaubt, dass ich vier Zyklen Chemotherapie ertragen habe, nur um dann mein Leben durch die Einnahme von Epo aufs Spiel zu setzen, muss verrückt sein.«
    Natürlich könnte man sämtliche Pharmaka freigeben und moderne Sportwettkämpfe auf diese Weise näher ans antike Gladiatorentum heranführen, weil es dann wieder Tote geben würde. Ich zweifle übrigens nicht, dass dies eines nicht allzu fernen Tages geschehen wird; die Frage dürfte einzig sein, wer die Übertragungsrechte erwirbt. Der menschliche Körper kann eben mehr leisten, als er ungedopt zugibt, in Notsituationen ist kurzzeitig jeder zu außergewöhnlichen Taten fähig, und Doping setzt diese vom Körper weise gehorteten Energien frei (dasselbe tun übrigens auch Drogen wie Kokain). Man zahlt dafür mit Lebenszeit oder konsequenterweise mit dem Leben selber. Und das ist keineswegs nur eine Angelegenheit der Profis; viel zu viele Menschen haben heutzutage viel zu viel freie Zeit, viel zu wenig Grips und ein viel zu stark körperfixiertes Ich-Ideal. Ich, der ich mich hier in den Vordergrund drängeln darf, weil es schließlich und letztlich um
meine
Passion geht, habe außer Mineraldrinks, Krustentieren und Rotwein nie etwas genommen. Da ich aber ungefähr als Spätdreißiger eine Kreatin-Packung bereits inder Hand hatte, will ich mich nicht verbürgen, was ich als Zwanzigjähriger getan haben würde.
    Wie auch immer:
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